Es ist ihr Jahr: Im Februar bekam Nora Fingscheidt einen Silbernen Berlinale-Bären für ihren Film "Systemsprenger", nun ist das Drama um eine Neunjährige für die Oscar-Nominierung, Kategorie bester fremdsprachiger Film, vorgeschlagen worden.
Fingscheidt, 1983 in Braunschweig geboren, ist die seit langem jüngste deutsche Kandidatin mit Oscar-Chancen (Ulrich Schamoni, damals 27, wurde 1966 für den Film "Es" vorgeschlagen, aber nicht nominiert). Außerdem ist die Filmemacherin eine der wenigen Frauen in der Vorauswahl-Historie, von dieser schwachen Frauenquote sollte der Oscar für Caroline Link ("Nirgendwo in Afrika", 2003) nicht ablenken. Link war eine von drei deutschen Auslandsoscar-Preisträgern.
Was die Vorauswahl angeht, sind es interessanterweise immer die Regisseurinnen, die mit Themen außerhalb der Historien-Schiene punkten. Filme, die im Nationalsozialismus oder in der DDR-Zeit spielen, sind in den USA beliebt, das dürfte die Goldstatuetten für Volker Schlöndorff ("Die Blechtrommel", 1980) und Florian Henckel von Donnersmarck ("Das Leben der Anderen", 2007) befördert haben.
Ein anderer Weg mit Benni
Noch in den letzten zehn Jahren haben es zwei Regisseure mit "einschlägigen" Themen bis zur Nominierung geschafft (das sind die fünf von der Academy in Los Angeles ins Rennen geschickten Filme): Michael Haneke 2010 für "Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte", der unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg spielte, sowie von Donnersmarcks desaströser Künstler-Film "Werk ohne Autor" im vergangenen Jahr.
Mit einem Mädchen namens Benni wird nun ein anderer Weg eingeschlagen. Auch wenn man noch nicht gleich von einem "Systemsprenger" des deutschen Film-Erfolgsrezepts sprechen muss. Noch untypischer als die Jetztzeit der Handlung ist die kindliche Heldin. Benni heißt eigentlich Bernadette und neigt schon im Kindesalter zu Wutausbrüchen und Aggression, sodass sie aus diversen Heimen und Wohnprojekten herausgeflogen ist. Ihre Mutter kommt mit Benni schon gar nicht mehr klar. Das Kind explodiert vor allem dann, wenn ihm jemand ins Gesicht fasst. Als Kleinkind soll ihr jemand dreckige Windeln ins Gesicht gedrückt haben. Bennis Ausraster – rosa Blitzer, die Leinwand scheint in tausend Fragmente zu zersplittern – sind formal bestechende Sequenzen.
"Systemsprenger" stellt sich nicht allwissend über seine Figuren, als erstes wäre die von Helena Zagel herzzereißend verkörperte Protagonistin zu nennen, sondern zeigt ihre Not und Ratlosigkeit. Das gilt auch für die reife, besonnen auftretende Sozialarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), die immer für Benni da ist und doch an ihre Grenzen kommt.
Retten wollen kann schädlich sein
Hoffnung keimt mit Bennis neuem Schulbegleiter Micha auf, energisch gespielt von Albrecht Schuch, der an den jungen Götz George erinnert. Gegen behördliche Bedenken setzt sich Micha mit der Idee durch, alleine mit dem Kind aufs Land zu fahren. Einige Wochen in einer abgeschiedenen Hütte zeitigen tatsächlich erstaunliche Wirkungen bei Benni. Doch ihre Umklammerungsversuche fordern nun Michas Standfestigkeit heraus: Er verliert die Distanz zu dem Kind, entwickelt Retter-Vorstellungen, die sich als schädlich erweisen könnten ...
"Systemsprenger" ist ein packender, restlos unsentimentaler Film, der ohne eine Spur von TV-Seelenbalsam eine Problematik auf den Tisch knallt, ohne die wohlfeile Lösung ins Paket einzuschnüren. Es wäre Nora Fingscheidt und ihrem Spielfilm-Erstling (!) nur zu gönnen, dass er die nächste Stufe erklimmt: Nun ist die Academy am Ruder, die eine Shortlist von neun Filmen der vorschlagsberechtigten Länder erstellt. Erst dann könnte "Systemsprenger" auch für den Auslandsoscar nominiert werden – und im Februar 2020, tja, sogar den begehrtesten Filmpreis der Welt gewinnen. Im Herbst kommt "Systemsprenger" erstmal in die deutschen Kinos: Anschauen!