Ein Junge vor einem brennenden Haus, eine Frau mit Pelzmütze und Eidechsen-Brosche auf der Brust, Burger kauende Teenager an einer vermüllten Bushaltestelle: Es sind diese Szenen, die Skurriles, Abseitiges und Stinknormales zeigen. Es sind Bilder, die in die Nischen des Alltäglichen schauen. Ein Mann mit Kamera streift durch Paris. Wirft einen Blick in eine Seitengasse, als nächstes auf eine aufgescheuchte Menschenmasse. Jemand stürzt, einer steigt drüber, andere schauen erschrocken zu. Den kurzen Trubel in der Bewegung mit einem Klick eingefroren. Der Bildausschnitt ordnet das Chaos. Die Farben, das Spiel mit Licht und Schatten machen scheinbar unbedeutende Straßenszenen zu Kunstwerken. Oft dauern diese Momente nur Sekunden. Es muss schnell abgedrückt werden. So wie es Joel Meyerowitz 1967 gemacht hat.
Aber sind solche Momentaufnahmen Ergebnisse der Kunstfreiheit oder Verletzungen der Persönlichkeitsrechte? Diese Frage stellt sich einmal mehr in der Ausstellung "Street. Life. Photography", besonders wenn Gesichter erkennbar oder Protagonisten mit nackten Hintern abgebildet sind. Das Kunst Haus Wien zeigt nun über 200 Fotos aus sieben Jahrzehnten mit zeitgenössischen Positionen sowie internationalen Klassikern.
Fragen zerstört den Moment
Meyerowitz' Foto ist eine solche Ikone der Straßenfotografie geworden. Die Porträtierten im Vorhinein nach ihrem Einverständnis zu fragen, würde den einzigartigen Moment zerstören, kritisieren viele Street-Fotografen. Das erkannte auch das Bundesverfassungsgericht in dem prominentesten Streitfall der Street Photography der letzten Jahre an: 2013 fotografierte der Norweger Espen Eichhöfer an einer Straßenkreuzung in Berlin-Charlottenburg eine Frau in einem Schlangenkleid. Dieses Bild wurde später ein paar Meter weiter vor dem Fotozentrum C/O Berlin auf einer öffentlichen Stellfläche ausgestellt.
Die Frau erkannte sich darauf wieder, forderte eine Unterlassung und Geld. Sie argumentierte mit dem Recht am eigenen Bild. Eichhöfer hat die Unterlassung unterzeichnet und war mithilfe von Crowdfunding dennoch vor Gericht gezogen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Beschwerde 2018 zwar ab, aber begründete seine Entscheidung folgendermaßen: Die "ungestellte Abbildung von Personen ohne vorherige Einwilligung" sei "strukturtypisch" für die Straßenfotografie. Das ist zumindest ein Teilerfolg für Street-Fotografen: Ein Kunstwerk müsse nach den Maßstäben der jeweiligen Kunstform und des Genres beurteilt werden. Kritischer bewertete das Gericht aber die Positionierung des Fotos. Auf der öffentlichen, großformatigen Stellfläche wurde die Frau nicht nur einem kunstinteressierten Publikum, sondern, an einer der verkehrsreichsten Straßen, einer Millionenstadt präsentiert.
William Klein: Spiel mit Actio und Reactio
Der US-amerikanischen Fotograf William Klein wäre wahrscheinlich nicht verklagt worden. Auf die Klassiker seiner Zeit wie Henri Cartier-Bresson blickte er eher ablehnend. Er war sich sicher, dass die interessantesten Bilder erst in Kommunikation mit den Menschen entstehen. In ihrer Reaktion auf die Kamera meinte er ablesen zu können, wer sie sind. Klein trat direkt in die Szenen, er machte sich als Fotograf transparent, und wurde Teil der Situation. So konnte es passieren, dass ihm ein kleiner Junge mit verbittertem Gesicht eine Waffe in die Linse hielt. In Kleins initiiertem Spiel entstehen einzigartige Momente der Actio und Reactio.
Andere Fotografen, die sich geheimniskrämerisch ans Werk machen, nur um den einen Überraschungsmoment zu erzeugen, können nicht auf dieses implizierte Einverständnis der Porträtierten zurückgreifen. Der nackte Hintern auf dem Foto von Leon Levinstein gilt in einer Ausstellung als Kunst, könnte aber in anderem Kontext als herabwürdigend und die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzend, interpretiert werden.
Merry Alpern: Die Voyeurin
In dieser Grauzone bewegte sich auch die amerikanische Fotografin Merry Alpern. 1995 erregte sie mit ihrer Serie "Dirty Windows" die Öffentlichkeit. Dabei fotografierte sie durch ein Badezimmerfenster in einen illegalen Sexclub. Die voyeuristischen Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Männer und Frauen beim Sex und Drogen nehmen. In einer weiteren Serie schoss sie mithilfe von Überwachungskameras Fotos von Frauen in Umkleideräumen. Ein Verhalten, das heute kritisch diskutiert wird: Es geht um das sogenannte upskirting, Männer, die Frauen unter den Rock fotografieren. Was bei Alpern unter die Kunstfreiheit fällt, kann zumindest in Großbritannien eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren zur Folge haben.
Menschen ungefragt zum Fotomittelpunkt zu machen, bleibt eine juristische Gratwanderung: Auch nach der begründeten Ablehnung des Falles Eichhöfer durch das Bundesverfassungsgericht müssen Fotografen die Risiken einer Veröffentlichung im Einzelfall abwägen. Gelungene zeitgenössische Beispiele, die sich längst als Kunst behauptet haben, gibt es nun im Kunst Haus Wien zu sehen.