Unvollständiges Handbuch eines Adabeis

10 Dinge, die ich über die Kunstwelt gelernt habe

Unsere Kolumnistin Anna Gien wollte es in der Kunst unbedingt zu etwas bringen. Sie war dabei, meistens an den Rändern und meistens nicht nüchtern. Was ihr dabei für Erkenntnisse um die Ohren geflogen sind, hat sie aufgeschrieben  

Es gibt ein Buch mit dem Titel "100 Secrets of the Art World". Neben der Tatsache, dass es wohl das langweiligste Buch ist, das je geschrieben wurde, ist vor allem die Annahme falsch, die Kunstwelt habe irgendwelche Geheimnisse. Obwohl sie natürlich ständig behaupten muss, sie hätte welche.

Die Dinge, die ich hier lose und ganz und gar unzusammenhängend formuliert habe, sind keine Geheimnisse. Sie fliegen jedem dahergelaufenen Möchtegern wie mir, der es in der Kunstwelt auf Teufel komm raus zu etwas bringen wollte, um die Ohren, sobald er oder sie in ihre glitzernden Peripherien hineingeflittert ist.

Zugegebenermaßen muss man dafür irgendwie dabei gewesen sein. Ich war dabei. Meistens an den Rändern, meistens nicht nüchtern, meistens nicht auf der Gästeliste, aber nah genug dran, um ein paar Dinge zu lernen, die ich nun mehr schlechten als rechten Wissens und Gewissens weitergeben kann. Denn die Kunstwelt ist wie ein fraktaler Kohlkopf. Was von außen schon schlimm aussieht, ist von innen genauso schlimm, nur eben im Quadrat.

Daher hier ein unvollständiger Auszug aus: "Handbuch eines Adabeis – 100 Dinge, die ich über die Kunstwelt lernte, während ich dabei war, dazugehören zu wollen" (in Vorbereitung)


1. Niemand weiß, wovon er oder sie redet

Das Schöne ist, dass man gar nicht wissen muss, wovon man redet. Es ist sogar völlig egal, wovon man redet, weil niemand weiß, wovon er oder sie selbst redet. Man kann also beim nicht Wissen, wovon man redet, nur sehr schlecht überführt werden. Um den Eindruck zu vermitteln, man wisse, wovon man redet (denn darum geht es eben schon, weil ja alle so tun, als wüssten sie, wovon sie reden), ist es am besten, man wirft so wild, wie man kann, mit Wörtern um sich, die man von anderen aufgeschnappt hat.

Es ist schwierig nachzuvollziehen, wer damit angefangen hat, aber insgesamt lässt sich feststellen, dass das sehr gut funktioniert. Man stelle sich also am besten ein Kind in einem Sandkasten vor, das auf einem Haufen geklauter Förmchen sitzt, und mit den Förmchen um sich wirft. Sie anderen Kindern an den Kopf wirft. Die anderen Kinder werfen dann Förmchen zurück, weil sie auch nicht wissen, was sonst. Irgendwann weiß dann niemand mehr, wem die Förmchen gehören, für was die Förmchen eigentlich da sind und warum man gerade überhaupt mit Förmchen um sich wirft, aber irgendwie hat man sich dran gewöhnt und muss zugeben, dass das Gewerfe wirklich großen Spaß macht.

Die Summe der Dinge, die geredet werden, ohne zu wissen, wovon da geredet wird, nennt man "Diskurs". "Diskurs" ist übrigens auch ein Wort, das man wundervoll werfen kann, wie ein Förmchen.


2. Die Partys sind gut, vorausgesetzt, man kommt rein

Hierzu am besten immer behaupten, man arbeite für Klaus Biesenbach. Das hat in New York funktioniert, in Berlin und in Basel. Dazu speichert man einen Freund unter "Klaus Biesenbach" im Handy ab und informiert die Person, damit sie Bescheid weiß. Dann, wenn man vor der Person steht, die die Gästeliste abhakt, behauptet man, der eigene Name müsste draufstehen und tippelt ungeduldig mit den Fingern. Wenn die Person dann den Kopf schüttelt, verdreht man die Augen, ruft die Nummer an, hält der Person das Display unter die Nase und sagt, sprechen Sie selbst mit ihm. Niemand will mit Klaus Biesenbach sprechen. Niemand.

3. Ernst sein ist alles

Die Künstlerin nimmt ihre Arbeit sehr ernst. Diejenigen, die von der Kunst der Künstlerin durch Verkauf oder Verwertung leben, nehmen sie nicht besonders ernst. Besonders dann nicht, wenn sie die Künstlerin persönlich kennen. Wenn die Künstlerin nicht hinhört, machen diese Leute sich darüber lustig, wie ernst die Künstlerin ihre Arbeit nimmt. Oder darüber, was für ein Arschloch die Künstlerin privat ist, weil sie ihre Arbeit so ernst nimmt.

Das ist allerdings unproblematisch, da alle gegenüber der Künstlerin selbst oder vor Publikum immer mit großer Dringlichkeit bekräftigen werden, wie ernst sie es mit der Arbeit der Künstlerin meinen, und wie ernst es mit der Arbeit der Künstlerin im Allgemeinen zu meinen sei. Deshalb ist es völlig hinfällig, wer was tatsächlich wie ernst nimmt. Es handelt sich also um einen Ernst-Ballon. Mit dem Gesicht der Künstlerin drauf. Sie schaut ernst, wie eine Bärchenwurst. Der Ernst-Ballon fliegt schön. Unten kann man Glitzer dranhängen, dann erkennt man ihn schon aus der Ferne.


4. Mit Galeristen schlafen bringt nichts

Die Einzelausstellung wird es nicht geben. Er wird sie dir nicht geben und keiner seiner Freunde. Niemand, den du auf der Party oder dem Dinner kennen lernst, wird die Haargelperformance auf deinem Instagram-Account sehen und dich für eine Gruppenshow ins PS1 einladen. Und alle, die es trotzdem behaupten, lügen.

Ich weiß, wovon ich spreche. (Wenn du das hier liest und du weißt, dass du gemeint bist: Ich wünsche dir alles Schlechte, und du hast noch meinen Schal. Ich hab auf Facebook gesehen, dass du ihn halbironisch bei dieser idiotischen Charity-Sache getragen hast. Es ist kein ironischer Schal. Auch wenn ich damals auf dem Dinner aus Höflichkeit gelacht habe, als du Witze über ihn gemacht hast. Er ist von meiner Oma. Und ich will ihn zurück.) Wer als Toyboy in die Gesellschaft eingeführt wird, bleibt Toyboy. Bis ans Ende seiner Tage. Amen.


5. Qualität ist ein schlimmer Wischiwaschi-Begriff

Obwohl viele Dinge über die Qualität von Kunst und die Kriterien dafür gesagt worden sind, ist das Ganze noch immer oder zunehmend ziemlich wischiwaschi. Über dieses Verhältnis wurden unzählige Bücher geschrieben, die die meisten aber nicht oder nicht zu Ende gelesen haben, siehe Punkt 1. Deshalb gibt es Einrichtungen wie Museen oder Galerien, die aus verschiedenen Gründen (siehe Punkt 28 – Kanon) wissen, was gut ist.

Was man gut findet oder nicht, kommt also auf den Kontext an. Ein penibel angefertigtes Malen-nach Zahlen-Bild, das einen kleinen weißen Pudel zeigt und das man, fände man es auf dem Flohmarkt auf der Oberbaumbrücke, vielleicht peinlich fände, wäre zum Beispiel nicht mehr so peinlich, hinge es in einer Sonderausstellung in der Serpentine Gallery. Es müsste dann einen Text dazu geben (siehe Punkt 19 – Ausstellungstexte), der erklärt, dass es sich hierbei um eine formalistische Referenz auf die algorithmische Verwertbarkeit künstlerischen Schaffens handelt, der Pudel irgendwas mit dem europäischen Geniebegriff zu tun hat und dann mit einem Zitat von Mark Fisher abschließt. Voraussetzung ist hierbei, dass der oder die Künstlerin weiß, was er oder sie tut. Oder eine Biografie hat, die rechtfertigt, warum er oder sie nicht weiß, was sie tut. Dann ist das sogar gerade gut.

Redet man mit Künstlerinnen über ihre Arbeit, kann man sich manchmal nicht ganz so sicher sein, ob sie wirklich wissen, was sie tun. Oder sie wissen sehr viel über das, was sie tun, was aber etwas anderes ist, als das, was der Rest der Welt darüber zu wissen glaubt. Es ist also doch nicht ganz so einfach. Im Bezug auf Qualitätsurteile insgesamt kann man aber festhalten, dass Aussagen wie "Damien Hirst ist schlechter als Marina Abramovich" oder "Manet ist besser als Picasso" nicht so viel Sinn ergeben.

6. Kunstkritik ist eine aufgeschriebene Gratulation 

Wenn man auf einer Ausstellungseröffnung ist, die man schlecht findet, auch wenn einem die Gründe für das, was man daran schlecht findet, irgendwie abhanden gekommen sind (siehe Punkt 5), dann sagt man es nie laut. Wird man gefragt, sagt man: "Tolle Show." Oder: "Herzlichen Glückwunsch, tolle Show." Oder: "Wow, tolle Show." 

Der Job des Kunstkritikers ist es, genau das zu machen, nur eben als Text. Das ist deshalb so, weil der Kunstkritiker in Zukunft für die Person, die die Ausstellung gemacht hat, die Kuratorin oder den Künstler, oder jemanden, den die Kuratorin oder der Künstler kennt, arbeiten will. Der Kunstkritiker muss ja von irgendwas leben, wir wollen ihm das also nicht vorwerfen. Grundsätzlich wollen wir hier niemandem irgendetwas vorwerfen. Nein, nein. Weil die Texte nur Gratulationen sind und alle das wissen, aber niemand es sagen kann, weil sonst die ganze Sache auffliegen würde und alle beschäftigungslos wären, liest sie niemand.

Dem Kunstkritiker ist es lieb, dass niemand seine Texte liest, weil er selbst weiß, dass sie nur Gratulationen sind, auch wenn sie unter Umständen wirklich schön geschrieben sind. Er kann sich sicher sein, dass alle trotzdem so tun werden, als hätten sie sie gelesen und ihm dafür gratulieren werden, dass sie so schön geschrieben sind (Siehe Punkt 22 – Mitleid). Falls ein Kunstkritiker irgendwann einmal wirklich kritische Texte geschrieben hat, als er es noch ernst meinte mit der Kunst oder noch von seinen Eltern finanziert wurde, qualifiziert es ihn umso mehr, für den Rest seines Lebens Gratulationen zu schreiben, die dann besser bezahlt werden, als die von denen, die von Anfang an nur Gratulationen geschrieben haben.


7. Der Mensch mag kritische Kunst 

Künstler selbst dürfen kritisch sein. Nein, sie sollen sogar. Sie können auch nur schöne Kunst machen, oder Kunst machen, die eine gänzlich unkritische, dafür anderweitig Mehrwert generierende "Erfahrung" ist, aber das ist eine andere Geschichte (siehe Punkt 15 – Schönheit). Wenn sie kritische Kunst machen, dann am besten kritisch gegen den Kunstmarkt, die Kunst selbst, die Form, oder eben den Krieg oder den Kapitalismus oder das Menschsein an sich.

Es gibt subtile Kritik und offensive Kritik. Je nach Konjunktur verkauft sich das eine besser oder das andere. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass die breite Masse Kritik mag, die besonders martialisch aussieht. Nackte Brüste zum Beispiel. Einen Pappmaché-Stein auf dem Kopf. Oder irgendwas Zertrümmertes. Für die Künstler ist das gut, weil es sich, wenn man lang genug irgendwas zertrümmert hat, schon auch ein bisschen so anfühlt, als sei man Matt Damon, der gerade etwas Böses in die Luft gejagt hat und jetzt in den Sonnenuntergang läuft. Das wollte man ja schon immer. Danach kann man ein Bier trinken.

Hierzu möchte ich, ohne Rückschlüsse auf einzelne künstlerische Positionen, Intentionen oder Motivationen ziehen zu wollen, auf eine Textzeile eines mittelmäßigen Popsongs verweisen, den ich vor ein paar Tagen im Radio gehört habe. Sie geht so: "Uh, uh, I’m a rebel just for kicks, man."


8. Panel-Diskussionen sind das Langweiligste, das es gibt

Eine Panel-Diskussion ist eine Veranstaltung auf der zwei bis zehn Leute das machen, was ich in Punkt 1 erklärt habe, nur mit Mikrofonen und Publikum. Manchmal gibt es Wein umsonst, meistens muss man dafür bezahlen (die fetten Jahre sind vorbei). Die Themen von Panel-Diskussionen lassen sich im Großen und Ganzen in folgenden übergreifenden Schwerpunkten zusammenfassen: "Was machen wir hier eigentlich?", "Was machst Du hier eigentlich?", "Wieso machen wir das hier eigentlich immer noch?", "Was bringt das hier?", "Jaja, wir wissen schon, wollen jetzt aber nochmal erklären, warum wir es trotzdem machen."

Panel-Diskussionen werden nicht durchgeführt aus folgenden Gründen:

  • Weil ein interessantes Gespräch geführt werden soll
     
  • Weil eine Diskussion angestoßen werden soll, die auf kurze oder lange Sicht künstlerischen, politischen, sozialen oder kulturellen Wandel nach sich ziehen soll

Panel-Diskussionen werden durchgeführt aus folgenden Gründen:

  • Die Person, die die Panel-Diskussion organisiert, will in Zukunft mit oder für die Panel-Teilnehmer*innen, oder jemanden, den die Panel-Teilnehmer*innen kennen, arbeiten
     
  • Die Personen, die auf dem Panel sprechen, wollen mit oder für andere Leute, die auf dem Panel sitzen, oder die Person, die das Panel organisiert hat, arbeiten
     
  • Die Person, die die Panel-Diskussion organisiert, will, dass Presse und Publikum ihren Namen in der Reihe der Leute lesen, die auf dem Panel sitzen
     
  • Die Personen, die auf dem Panel sprechen, wollen, dass Presse und Publikum ihren Namen in der Reihe der anderen Panel-Teilnehmer*innen lesen
     
  • Die Person, die das Panel organisiert hat, will, dass jemand aus dem Publikum einen Artikel über die Panel-Diskussion schreibt, in der ihr Name und ihre Arbeit erwähnt wird
     
  • Die Personen, die auf dem Panel sprechen, wollen, dass jemand aus dem Publikum einen Artikel über die Panel-Diskussion schreibt, in der ihr Name und ihre Arbeit erwähnt wird
     
  • Die Person, die das Panel organisiert, hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung
     
  • Die Personen, die auf dem Panel sitzen, haben eine narzisstische Persönlichkeitsstörung

Panel-Diskussionen werden nicht besucht aus folgenden Gründen:

  • Weil man ein interessantes Gespräch hören will

Panel-Diskussionen werden besucht aus den folgenden Gründen:

  • Weil man hofft, jemanden im Publikum zu treffen, mit oder für den oder die man in Zukunft arbeiten will, oder der oder die einen auf eine Party oder ein anderes Panel einlädt, wo man jemanden trifft, mit oder für den oder die man in Zukunft arbeiten will
     
  • Weil man hofft, mit einem der Panel-Teilnehmer*innen oder der Person, die das Panel organisiert hat, ins Gespräch zu kommen, um in Zukunft für oder mit ihnen zu arbeiten, oder von ihnen zu einer Party oder einem anderen Panel eingeladen zu werden, wo man jemanden trifft, mit oder für den oder die man in Zukunft arbeiten will
     
  • Weil man sich inspirieren lassen, also Ideen für sein eigenes Projekt klauen will
     
  • Weil man ein Tinder-Date auf der Panel-Diskussion hat (schlechte Idee)
     
  • Weil man seinen neuen Pullover ausführen will

Dasselbe lässt sich auch ohne Weiteres auf alle Vernissagen, Finissagen, Workshops, Lesegruppen und alle weiteren Veranstaltungen innerhalb der Kunstwelt übertragen.


9. Wissen ist woanders

Museumsaufsichten sind die interessantesten Menschen, mit denen ich in Museen gesprochen habe. Sprich mit ihnen. Sie wissen vermutlich mehr als Du.


10. Mach' nie ein unbezahltes Praktikum

Abgesehen davon, dass die ganze Sache, wie die meisten Sachen, die um elaborierte Formen der Selbstbeschäftigung kreisen, also eigentlich alles, ohnehin hirnrissig ist, ist das nochmal hirnrissiger obendrauf. Es ist hirnrissig gegenüber einem selbst und unfair gegenüber den anderen, die kein unbezahltes Praktikum machen können, weil sie es sich nicht leisten können, umsonst zu arbeiten.

Sowieso sollte man nicht umsonst arbeiten, was sich aber kaum vermeiden lässt (Siehe Punkt 22 – Bezahlung in "Exposure"). Wahrscheinlich ist es ohnehin nicht zu retten. Wahrscheinlich war es nie anders oder besser oder wie auch immer. Wenn Du aber trotzdem willst, dass die Kunstwelt weiterhin als der elitäre Haufen privilegierter Dullies erhalten bleibt, der er ist, dann mach' ein unbezahltes Praktikum. Ich habe ein unbezahltes Praktikum gemacht. Ich bin ein privilegierter Dully. Ich spreche aus Erfahrung.