Selfie-Performance von Leah Schrager

"Niemand sagt: Sie sehen Kunst"

Die Performancekünstlerin Leah Schrager wurde dabei gefilmt, wie sie sich am Pool für das perfekte Selfie verrenkte - und wird im Netz mit Häme überschüttet. Dabei geht es ihr genau um die Unsicherheit des Mediums Instagram, wo Kunst sich nicht in Institutionen verstecken kann 

Eine junge Frau lässt sich während eines Baseballspiels von ihrer Freundin fotografieren, sie posiert, macht ein Duckface, fährt sich mit der Hand durch die Haare. Ein Mann filmt die Szene fast eine Minute lang, er reicht das Video bei einer großen amerikanischen Seite ein, das Video geht viral. 12.5 Millionen Views auf Twitter, 5000 Retweets, 3000 Kommentare. Das Video wurde mit dem Kommentar geteilt "BIG baseball fan at the Yankees game today".

Das Internet macht, was es am besten kann: Es dreht durch. Der Absender wird beschimpft, weil er sich über die junge Frau lustig macht. Er erklärt, dass er das Video nicht aufgenommen habe, es sei eben einfach lustig, wenn eine junge Frau während eines Baseballspiels minutenlang Fotos von sich machen lassen müsse. Wenig später meldet sich die Frau aus dem Video auf Twitter zu Wort, ein Model aus Frankreich, das für ein paar Tage in New York war. Und damit hat Justine Soranzo, so ihr Name, die Lage in den Griff bekommen. Die Twitter-Nutzer sind auf ihrer Seite, bejubeln ihr Fotoshooting und bewundern sie für ihr Selbstbewusstsein. Das war Mitte Mai.


Jetzt gibt es eine Wiederholung, mit einer anderen Besetzung an einem anderen Ort. Nur endet die Geschichte nicht ganz so schön. Die Künstlerin Leah Schrager hält sich zwei Stunden mit einem Selfie-Stick am Pool des Montauk Beach House auf, ein Fotograf folgt ihr. Sie läuft herum, posiert, fotografiert sich selbst, er fotografiert sie, während sie die unmöglichsten Posen einnimmt und dabei kein Ende zu finden scheint.

Ihre Performance "Angles on a Woman“ hatte sie Ende Juni auf ihrem Instagram-Account angekündigt, vor Ort fanden sich einige Zuschauer ein, es war aber eben auch das normale Beach-House-Publikum am Pool. Und das war wohl etwas irritiert von dem, was es sehr lange mitansehen musste: Eine junge Frau bemüht sich angestrengt um das perfekte Selfie.


Die sozialen Medien sind voller Fotos, wie Leah Schrager sie an diesem Tag am Pool macht. Eine junge Frau in sexy Pose, das klickt. Das weiß Schrager, weil sie unter anderem davon lebt, dass Männer ihre Fotos und mehr sehr wollen. In ihrer Performance, das war der Plan, sollte der Entstehungsprozess offengelegt werden.

Man kennt Menschen, die am Nachbartisch im Café ein Foto von ihrem Frühstück machen. Man ist an Menschen gewöhnt, die sich vor Sehenswürdigkeiten für ein Foto seltsam benehmen. Man hat unzählige Instagram husbands und boyfriends und girlfriends erlebt, die sich nimmermüde am Strand, auf der Straße, im Hotel Anweisungen beim Fotografieren geben lassen. Ungewohnt derweil ist der Anblick einer jungen Frau, die ihren Hintern schamlos in der Öffentlichkeit in die Höhe streckt und mit einem Selfie-Stick draufhält. Weshalb auch ein männlicher Pool-Besucher die Szene festgehalten und das Video bei eben dieser großen amerikanischen Seite eingereicht hat, die zuvor das französische Model bloßstellen wollte.


Das Ergebnis dieses Mal: über 4 Millionen Views auf Instagram und 8500 Kommentare. Nicht der Absender wird dieses Mal beschimpft, sondern die junge Frau wird verspottet, weil ihr offenbar gar nichts mehr peinlich ist. Nachdem Leah Schrager auf das Video gestoßen war, bat sie in einem Kommentar darum, namentlich genannt, also mit ihrem Account @onaartist vertaggt zu werden.

Diese Bitte wiederum führte zu noch mehr Spott im Kommentarbereich. Erst giert sie in der Öffentlichkeit nach Aufmerksamkeit, nachdem sie jetzt auch im Internet viral geht, reicht ihr das immer noch nicht. "Jesus, mir tun deine Eltern leid", schreibt beispielsweise @sumbitch99. Und @bridgetherrmann kommentiert: "Das einzige, was noch schlimmer ist als dieses Video, ist das Mädchen IN dem Video, das jetzt verzweifelt versucht, getaggt zu werden." Irgendwann reagieren die Seitenbetreiber und ergänzen die Credits.

Leicht mitgenommen im Skype-Call

Leah Schrager kontaktiert Medien und Journalisten, die in der Vergangenheit über sie berichtet haben. Ihre Mail geht auch an mich, darin ein Link zu einem Text auf ihrer Website, in dem sie unter dem Titel "Nutte oder Künstlerin? Die kontroverse Performace Angles on a Woman von Künstlerin Artist Leah Schrager führt zu viralem Video und ablehnenden Reaktionen“ den Vorfall aus ihrer Perspektive schildert und einordnet. "Vice" und "Artnet" berichten, Schrager und ich skypen.

Leah sitzt mir leicht mitgenommen auf ihrem Bett in New York gegenüber. Es ist ein heißer Tag, sie schwitzt, während Hamburg sich nicht entscheiden kann, ob es Sommer oder Herbst ist. Bevor ich eine Frage stellen kann, will sie von mir wissen, was ich über die Ereignisse denke. "Erzähl doch erst einmal, was genau passiert ist", bitte ich sie. Leah erzählt, dass die Performance spontan nach draußen an den Pool verlegt wurde, weil sich dort die Mehrheit der Gäste aufhielt. Eigentlich sollte sie in den Galerieräumen performen, wo gerade eine Einzelausstellung von ihr zu sehen war.

Also disponierte sie um und fand sich plötzlich zwischen Menschen wieder, die gemütlich bei bestem Wetter am Pool saßen, sich miteinander unterhielten und ihr dabei zusahen, wie sie sich fotografierte. Einige ignorierten sie, andere sprachen sie an, um zu erfahren, was da vor sich geht. Nach zwei Stunden endet ihre Performance im Pool. Es war das erste Mal für sie vor Publikum.

Die Pose ist bestens bekannt

Ich frage sie, was das Ziel ihrer Performance war. "Die Idee war", sagt sie, "verschiedene Blickwinkel zu bekommen. Frauen werden besonders in den sozialen Medien nach dem beurteilt, was sie wie von sich präsentieren. Ein Körper kann aber verschiedene Frauentypen repräsentieren." Ich erzähle ihr von dem französischen Model, dem vor einigen Wochen ähnliches passiert ist, nur war sie eben angezogen, hat ihr Gesicht ein bisschen verzogen und, das besänftigte die Kommentatoren, sie ist tatsächlich ein Model. Und Models, die dürfen das, schließlich ist es ihr Job, auf Fotos gut auszusehen, so die Logik.

Schrager derweil hat eine Pose, die ihr unter dem Pseudonym @onaartist seit vielen Jahren regelmäßig massig Likes und begeisterte Kommentare ihrer männlichen Follower bringt, im öffentlichen Raum ausgestellt. Auf Instagram erinnert sie aktuell daran, dass genau diese Pose in der Kunstwelt ebenfalls seit einigen Jahren bestens bekannt ist.


Es gibt eine Skulptur von Anna Uddenberg, an der seit der Berlin-Biennale 2016 kaum jemandem vorbeigekommen sein dürfte, weil diese oder sehr ähnliche Werke von ihr in fast jeder Ausstellung zu finden sind, wenn es irgendwie um Internet und/oder Feminismus und Kunst geht. Aktuell läuft ihre Einzelausstellung "Power Play" in der Bundeskunsthalle Bonn, dort hängt eine Frau auf einem Bartisch und verdreht ihren Körper, um möglichst sexy zu wirken – die Pose ist maximal awkward. Und es gibt, wie gesagt, diese eine Skulptur von Uddenberg: eine Frau streckt ihren Hintern in die Höhe, um mit Hilfe eines Selfie-Sticks ein Foto zu machen.

Im Katalog zur Biennale ist über Uddenbergs Skulpturen zu lesen: "Uddenbergs Arbeiten sind Überzeichnungen und Kommentare auf die stereotypen Vorstellungen von Geschmack, Klasse, Geschlecht und Sexualität – die Regeln und Zwänge körperlicher, oftmals weiblicher, Identität. (...) Sie beschäftigt sich damit, wie Intimität zur Ware wird und wie sich Affekte und Konsumverhalten in der heutigen Zeit durchdringen. In Arbeiten, die weibliche Sexualität zur Schau stellen und sie einer Ästhetik des Abjekten und der Erniedrigung gegenüberstellen, treibt Uddenberg die Codes weiblicher Identität auf die Spitze und legt sie in einer hybriden Form offen, die zugleich unbehaglich und anziehend wirkt." 

In ihrem Posting auf Instagram wirft Schrager die Frage auf, ob die signature pose von Ona nicht vielleicht sogar die Vorlage für Uddenberg war. Sie wird sofort zurechtgewiesen: Du Dummerchen, schreibt @caesarfajardo – okay, das Dummerchen hat er weggelassen: "Du verstehst den Punkt nicht, während du Selfies von deinem Arsch machst, kritisiert sie die Lächerlichkeit der modernen Selfie-Kultur."


Der Unterschied zwischen Uddenberg und ihr, erklärt Schrager, sei das Medium. Uddenberg arbeitet im klassischen Medium der Skulptur, sie selbst nutzt Instagram für ihre Langzeitperformances. Bei ihr fehlt der institutionelle Rahmen, der anzeigt: Sie sehen Kunst. Das aber mache ihre Arbeit erst interessant, sagt sie.

Unter dem Pseudonym Ona zeigt Schrager auf Instagram, wie Intimität in Zeiten sozialer Medien zur Ware wird, wie sich weibliche Sexualität verändert, wie sich Frauen erniedrigen, um auf Männer anziehend zu wirken. Auf ihrem Account @leahschrager läuft seit Oktober 2018 eine Performance: Sie hat die Unterstützung eines männlichen Förderers angenommen, der innerhalb eines Jahres eine Million Dollar in ihre Kunst investiert. Sie hat sich in die Hände eines Mannes begeben, der ihr zu Erfolg in der Kunstwelt verhelfen soll, indem er entscheidet, welche Bilder angemessen sind.

Schrager ist sich unsicher, ob ihre Performance "Angles on a Woman" erfolgreich war. Sie tendiert dazu, die Reaktionen als Erfolg zu werten. Schließlich wird wieder diskutiert, was Kunst in Zeiten sozialer Medien ist und kann. Und es wird wieder darüber gestritten, ob es Kunst ist, wenn Frauen ihren Körper performativ einsetzen und die Grenze zur Pornografie überschreiten.