Kolumne

Ungelegte Eier (4)

Ideen sind wie Eier, man kann sie in unterschiedlichen Aggregatzuständen und Variationen genießen. Diesmal geht es bei den Kreativen, die sich um einen Esstisch versammeln, um Eskapismus, Architektur und Intuition 

Vor einer Woche war es noch unerträglich heißt, nun scheint die große Hitze vorbei zu sein. In Berlin sind es nur 19 Grad, es stürmt, dichte Wolken am Himmel. Nicht die Stimmung, die man im Juli erwartet. Und meine Gäste? So unterschiedlich wie das Wetter wechselhaft: die Schriftstellerin Emma Braslavsky, ihr Mann, der Künstler Noam Braslavsky, die Künstlerinnen Isa Melsheimer und Jorinde Voigt sowie die Architektin Bettina Kraus.

Während ich Bettina Kraus schon seit fast 20 Jahren kenne, ist Emma Braslavsky ein Blind Date – ich fand den Ankündigungstext zu ihrem neuen Roman "Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten", der im August erscheint, so spannend: er handelt von Cyber Sex, und das hat mich schon immer interessiert. So unterschiedlich die Gäste, so unterschiedlich ihre ungelegten Eier – und die Art, wie sie sie vorstellten.

Den Anfang macht Emma Braslavsky. Wir reisen in ihre Vergangenheit, 2005 plante sie eine Ausstellung mit dem Titel "Kunst des Fliehens. Wir Eskapisten zwischen Wirklichkeitsverweigerung und Überlebensstrategie." Sie hat eine Mappe dabei, mit Kostenplan und dem Schriftverkehr mit Ilja Kabakow. Die Förderung schien sicher, doch dann wurde Adrienne Goehler als Chefin des Hauptstadtkulturfonds abgesetzt. Aus der Traum. Heute könne man so was nicht mehr machen, denn Eskapismus sei doch Normalität. Das Projekt ist deshalb "ein abgetriebenes Ei", sagt Emma Braslavsky. Die Wut ist ihr auch noch nach 13 Jahren anzumerken.

Noch weiter in die Vergangenheit reist Noam Braslavsky. Sein ungelegtes Ei handelt von Grenzen und beginnt in den 1920er-Jahren, als sein russischer Großvater ein Kibbuz mitbegründet. 1994 wird im Rahmen der Friedensgespräche zwischen Jordanien und Israel wird ein Hügel, der zum Kibbuz gehört, zur entmilitarisierten Zone erklärt, die von beiden Seiten ohne Visum betreten werden darf. Noam Braslavsky plante dort einen Platz, an dem sich Kinder aus Israel und Jordanien treffen sollen. Er entwirft ein fragiles Glashaus als begehbare Skulptur. Das Kibbuz hatte der Umsetzung schon zugestimmt, doch zum Bau kommt es nicht, weil ein jordanischer Soldat 1997 Amok läuft und zwei Mädchen erschießt. Der Hügel heißt heute trotzdem Friedensinsel, gebaut ist die Skulptur aber nicht. Ob sie es nochmal wird? Die Zukunft wird es zeigen.

In der Zukunft liegt auch Isa Melsheimers Ei. Und ist erstmal nicht politisch, sondern privat. Sie will sich ein Atelier in der Uckermark bauen. Ob das eine Form von Eskapismus ist, diskutieren wir nicht. Dafür aber eine andere Frage. Denn Isa Melsheimer ist zwar Künstlerin, interessiert sich aber sehr für Architektur. So sehr, dass sie überlegt, ihr Atelier selber zu entwerfen. Also quasi zur Architektin zu werden. Aber irgendwie schreckt sie davor noch zurück. Sie überlegt deshalb, mit einem jungen Architekten zusammenzuarbeiten, der, so hofft sie, offen für ihre Ideen ist. Andererseits findet sie es auch sinnvoll, einem erfahrenen Architekten zu engagieren, der auf entspannte Weise mit ihren Wünschen umgeht.

Letztlich, so wird im Gespräch klar, geht es um Autorenschaft. Und die Frage, welche Grenzen künstlerische Praxen in der Zeit disziplinärer Entgrenzung haben. Wann wird Kunst zur Architektur und wann Architektur zur Kunst?

Dazu passt ein Foto, das Bettina Kraus mitgebracht hat. Es zeigt einen Hühnerstall, den sie mal für einen Sammler gebaut hat. Nicht als Kunst, sondern als Teil einer privaten Galerie. Das ist aber nicht ihr ungelegtes Ei, sondern passt halt gut zum Thema Eierlegen. Sie berichtet von der Publikation "Werkstücke II", die sie gerade vorbereitet. Als "Werkstücke" bezeichnet sie Zeichnungen und Modelle, mit denen Architekten Raumideen generieren können.

Gerade hat sie mit Studierenden solche Werkstücke aus der Nuova Topografia di Roma entwickelt, die der italienische Architekt Giovanni Batista Nolli 1748 angefertigt hat. Sie zeigt Fotos der so entstanden räumlichen Gebilden, die weder Architektur sind noch Kunst, sondern Katalysatoren, Werkzeuge, um eine im Raum verborgene architektonische Form herauszuarbeiten. In ihrer Art zu sprechen wird deutlich, dass sie auf der Suche ist. Ganz vorsichtig umkreist sie ihre Werkstücke. Die Objekte sind interessant und poetisch, aber wenn ich ehrlich bin: komplett verstanden habe ich es nicht. Aber das ist das Schöne an ungelegten Eiern. Man muss sie nicht immer verstehen, weil sie ja noch nicht fertig sind.

Auch Jorinde Voigt ist nachdenklich. Zum Sprechen steht sie auf, stellt sich mit einer Zigarette ans Fenster. Berichtet von ihrer Mutter, die ihr immer gesagt hat, dass man nicht über ungelegte Eier spricht, was im Widerspruch zur Kunstwelt steht, wo man immer im Gespräch bleiben muss, nicht "Nein" sagen kann, und deshalb auch über ungelegte Eier spricht. Sie erzählt von dem Gefühl, dass sich etwas anbahnt. Vom Ei in der eigenen Höhle, das noch nicht einsehbar ist, aber schon als Organismus funktioniert. Sie spricht von Intuition als Form des Wissens, und fragt nach der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem, was man noch nicht vergedanklicht hat.

Da waren sie wieder, die Grenzen. Zwischen Jordanien und Israel. Zwischen Eskapismus und Normalität. Zwischen Kunst und Architektur. Grenzen überschritten hat eigentlich keiner. Außer meinem einjährigen Sohn. Der hat nämlich dauernd geschrien. Aber das gehört zu einem sonntäglichen Mittagessen halt manchmal dazu.