Sommer 1970, das Firmenbüro einer westdeutschen Großstadt. Margret, die junge Sekretärin mit dem Minirock und hochtoupiertem Haar, wirft sich in Pose, blickt kokett von der elektrischen Schreibmaschine auf, lehnt lasziv am Fensterbrett. Hinter der Kamera steht Günther, ihr Chef und neuerdings auch ihr Liebhaber. Es ist der Beginn einer sechsmonatigen Liebesbeziehung, die geheim bleiben muss, denn beide sind verheiratet. Und die er dennoch in Hunderten Fotos und Schriftstücken dokumentieren wird. Günther macht sich zum Voyeur seiner eigenen Affäre.
Am Anfang stehen Treffen in Cafés und erste Reisen, man lässt es sich nach allen Regeln der Zeit gut gehen. In Bad Kreuznach speist man im Restaurant Kurhaus, in Wiesbaden besucht man die Spielbank. Günther dokumentiert jeden Schritt, sammelt Prospekte, Eintrittskarten und Rechnungen, Lottoscheine und Tramtickets. Daheim errichten sie sich ein Liebesnest in der Wohnung des Chefs über seinem Büro. Günther fotografiert Margret vor und nach dem Sex. Er kauft ihr Kleider, die sie für ihn anzieht und für seine Aufnahmen. Und er beginnt tagebuchartige Aufzeichnungen.
"10 Uhr vormittags M. zu Hause abgeholt. Angeblich nach Bad Neuenahr zur Mutter gefahren. In Wirklichkeit nach oben. M. gekocht. Rinderschmorbraten, Kartoffel, Salat. Mittag um 1 Uhr gegessen und bis 1 Uhr 45 Fernsehn gesehen, alsdann ins Bett", notiert er am 29.11.1970. Spießiges und Obszönes reihen sich nahtlos aneinander. Erwähnung findet das "Rotbarschfillet mit Feldsalat und schönen Kartoffeln" sowie "Rückenlage und die Spezialstellung", anderntags wird "Einweihungsfeier begangen trotz Tage". Günther verwendet eine Schreibmaschine: Behördendeutsch im Behördenmedium.
Voyeuristische Selbstinszenierung
Nichts entgeht seiner Manie. Günther hebt ein Schamhaar Margrets auf sowie "Kopfhaare, entnommen der Stahldrähtebürste womit sie sich gekämmt hatte, bevor sie zum Friseur gefahren wurde". Er verwahrt eine am "Dienstag, d. 27.10.70 vom Handgelenk abgemachte Kruste", markiert im Kalender Margrets Periode, hebt die leeren Schachteln der Antibabypille auf. Ein Besessener, der Besitz ergreift, Trophäen um sich schart.
Voyeuristische Selbstinszenierungen sind aus der jüngeren Kunstgeschichte bekannt. Die Französin Sophie Calle etwa beauftragte einen Detektiv, sie zu beschatten. Und in Istanbul zeigt der Schriftsteller Orhan Pamuk in seinem "Museum der Unschuld" Artefakte einer fiktiven Liebe. Günther und Margret aber haben wirklich existiert.
Dass ihre Geschichte bekannt wurde, verdankt sich einem Zufall. Bei einer Wohnungsauflösung tauchte ein Koffer auf, in dem die Dokumente verpackt waren. Der Galerist Siegfried Sander erwarb das Konvolut und gab es weiter an seine Kollegin Susanne Zander, eine Expertin für sogenannte Outsider-Kunst. Zander stellte Recherchen an, fand heraus, dass Günther und Margret gestorben sind, bereitete das Material auf.
"Kunst ist eine Möglichkeit, Distanz zu gewinnen", hat Sophie Calle einmal gesagt. Wollte auch Günther Abstand gewinnen oder im Gegenteil seine Lust noch steigern? Wechselte er von Schwarz-Weiß- zu Farbfotos, weil er bewusst auf die Gestaltung achtete? Konzipierte er ein Drehbuch seiner Affäre? Wollte er, dass seine perverse Wunderkammer einmal ausgestellt würde, so, wie es jetzt geschieht?
Dem Voyeurismus ausgeliefert
Als Betrachter ist man seinem Voyeurismus schutzlos ausgeliefert. Gleichzeitig öffnet sich ein Blick auf eine Ära, in der Kurhotels die große Welt waren, "Capi mit MM-Sekt" getrunken und "danach eine Zigarette geraucht" wurde, in der um 17 Uhr Geschäftsschluss war und man es sich vorm "Buntfernsehen" gemütlich machte. 1970 wurde auch die Geschichte der Prostituierten Josefine Mutzenbacher verfilmt, Erotik wanderte in die bundesrepublikanischen Bücherschränke (und wurde nur versteckt, wenn die Verwandtschaft zu Besuch kam).
Nicht zuletzt spiegelt das Zeitdokument den wohl zeitlosen Verlauf vieler Affären. Die Romantik der Anfangstage flaut bald ab, immer öfter kommt es zum Streit. Und dann wird Margret trotz Günthers Kontrollwahn schwanger. Datum, Ort und Kosten der Abtreibung werden notiert sowie die Tatsache, dass man bereits am Folgetag zum großen Tanzabend in Gürzenich einkehrt. Doch die Luft ist raus. Margret und Günther trennen sich im Dezember 1970.