In Berlin gehe ich gefühlt alle paar Tage in die Buchhandlung "Pro qm". Direkt am Eingang, auf der linken Seite, steht ein kleiner Tisch mit Neuerscheinungen. Vor ein paar Monaten lag da also endlich das Buch, von dem ich hoffte, dass es irgendjemand schreiben möge. Nathan Jurgenson, Social-Media-Theoretiker, wie es im Klappentext heißt, hat es getan. Wenn ich mich richtig erinnere, war meine Freude sogar so groß, dass ich ihm, mit dem ich bis dato gar nichts zu tun hatte, sehr zeitnah auf Twitter zum großartigen Buch gratuliert habe.
Seither erwähne ich es irgendwie bei jeder Gelegenheit – was ja auch schön ist, denn im 21. Jahrhundert sollte es okay sein, dass nicht ständig Walter Benjamin, Roland Barthes' "Helle Kammer" und Susan Sontag zitiert werden. Was haben die nochmal über Fotografie im Zeitalter sozialer Medien geschrieben? Genau. Nichts. Das hat jetzt Nathan Jurgenson übernommen. Seine Titelwahl deutet es schon an, er aktualisiert Susan Sontag. Bei ihr hieß es schlicht "On Photography", bei Jurgenson kommt hinzu: "The Social Photo: On Photography and Social Media".
Kunstgeschichts-Puristen kommen nicht weit
Mit Fotografie will social photography überhaupt nicht konkurrieren, so der Ausgangspunkt von Jurgenson. Das ist das große Missverständnis. Bei Fotografie geht es um ästhetische Fragen und darum, ob ein Bild gut ist. Diese Frage stellt sich bei Social Photos nicht. Eine SMS untersucht man ja auch nicht auf ihre poetischen Qualitäten. "Grundsätzlich macht für mich ein Foto zu einem sozialen Foto, inwieweit seine Existenz als eigenständiges Medienobjekt seiner Existenz als Kommunikationseinheit untergeordnet ist", schreibt er. Und beklagt, dass genau das bisher meist ignoriert wurde.
Wenn man also kunsthistorische Fragestellungen an Bilder richtet, die in den sozialen Medien geteilt werden, kommt man damit nicht sehr weit. Dann kann man zwar beklagen, dass es zu viele Bilder gibt, dass die Inhalte banal sind, dass professionelle Fotografen nicht mehr gebraucht werden – und man kann natürlich in Ausstellungen Bilderberge schütten, wie es schon so oft getan wurde. Dann ignoriert man aber, dass in den sozialen Medien Fotos nicht als Objekte, die für sich stehen sollen, geteilt werden, sondern als Erfahrungen. "Das Zentrum der konzeptuellen Gravitation für die Beschreibung, wie Menschen heute mit Bildern kommunizieren, sollte weniger kunsthistorisch als sozialtheoretisch sein", so Jurgensons Schlussfolgerung.
Kein Essens-Foto ohne Kontext
Ein Beispiel: Wenn ein Essens-Foto aus dem Kontext der sozialen Medien gerissen wird, wundert man sich, warum das Foto überhaupt gemacht wurde. Als ein Bild unter vielen, ist es einfach nur ein Teil der Kommunikation des Absenders. Jurgenson vergleicht visuelle Kommunikation mit mündlichem Geschichtenerzähler. Klar, jetzt kann man natürlich beklagen, dass Nutzer sozialer Medien besonders geschwätzig sind und ein sehr großes Mitteilungsbedürfnis haben. Das wiederum liegt daran, dass in den sozialen Medien das Publikum immerzu anwesend ist, man also immerzu senden kann. Irgendjemand wird schon zuhören oder sich interessieren. "Social Photography kann das Leben ein bisschen zu einem Spiel machen, mit Likes und Herzen und Followern zum Sammeln", so Jurgenson. Das hat Susan Sontag einst auch als Sucht ausgemacht, den Wunsch, Erfahrungen mittels Fotos festzuhalten und sich damit der Wirklichkeit zu versichern.
Während sich einst darüber beschwert wurde, dass Fotos von Touristen unoriginell sind und ein Foto aussieht wie das andere (vom Eiffelturm, vom Schiefen Turm von Pisa etc.), trifft das heute auf Fotos in den sozialen Medien allgemein zu. Was einst für Urlaubsfotos galt, trifft heute auf jede Sekunde des Tages zu: "I was there, I did that." Ich war im Bett, ich bin aufgewacht, ich habe Kaffee getrunken usw. usf.
Das große Status-Theater gab es auch schon vor Instagram
Im ersten Teil des Buches fasst er zusammen, wie sich der Umgang mit Bildern in den sozialen Medien entwickelt und verändert hat – das mit Blick auf die Geschichte der Fotografie und die großen theoretischen Texte von Benjamin, Sontag und Barthes. Und wenn man in der Gegenwart ankommt, ist man schnell beim Thema oversharing und digital detox. Jurgenson ärgert sich im zweiten Teil des Buches darüber, dass immer noch zwischen "online" und "offline" unterschieden wird, also zwischen Dokumentation und Erfahrung. Das Leben könne nur genießen, wer kein Smartphone in der Hand hat, steht oft genug in der Zeitung.
Dahinter stecke die Furcht, dass wir den Kontakt zur realen Welt und zu uns selbst verlieren, weil wir ja in den sozialen Medien nicht wir selbst sind, sondern für die Kamera performen, erklärt Jurgenson und erinnert mit u.a. Foucault und Butler daran, dass auch das nichts Neues ist: "Die Performance von Statusgehabe – Erfolgstheater – ist für die Existenz von Identität von grundlegender Bedeutung und war es lange vor dem Aufkommen des perfekt inszenierten social photo." Er vergisst nicht zu erwähnen, dass egal wie viel jemand auch teilen mag, trotzdem nicht alles gezeigt wird.
Jetzt kann man natürlich einwenden, dass die Thesen von Nathan Jurgenson auch nicht ganz so neu sind. Fast alles hat man hier und da schon einmal gelesen, aber es musste eben jemand in einem Buch zusammenbringen und deutlich formulieren, dass Social Photography keinen Kunstanspruch hat. Und das ist dann doch interessanter zu lesen als noch ein Büchlein über Selfies.