"Fotografie 2.0"-Kolumne

Verliererkünstler

Warum gibt es so viele Künstler, die nicht von ihrer Kunst leben können? Und warum macht das Internet alles nur noch komplizierter? Der schwedische Künstler Henning Lundkvist hat einen Wutausbruch über den Kulturbetrieb zu Papier gebracht

Es ist ein unscheinbares Büchlein mit viel zu viel Text auf dem Titel. Und weil da weder der Name des Autors, noch der Titel der Publikation stehen, fängt man unwillkürlich an, den Text selbst zu lesen. "Ich hatte zwar viel kulturelles Kapital angesammelt, aber wie so viele andere hatte ich nie eine Möglichkeit gefunden, es in Bargeld umzuwandeln". Es geht weiter, auf Englisch, ohne Punkt und Komma, 110 Seiten lang.

Hennig Lundkvist hat unter dem Titel "Planned Obsolescence – A Retrospective" einen rasenden Wutausbruch über den Kulturbetrieb zu Papier gebracht. Ab und zu setzt er natürlich doch ein Komma. Sehr selten. Er holt beim Schimpfen keine Luft, also soll sich der Leser auch keine Verschnaufpause gönnen. Es ist ein fieses, kleines Büchlein, das wütend ist, das weh tun soll, das nicht weiter weiß.

Henning Lundkvist, Künstler und Autor, hat über einen Künstler und Autor geschrieben, der nicht von seiner Kunst und auch nicht von seinen Texten leben kann. Wie so viele im Kulturbetrieb. Wie eigentlich alle im Kulturbetrieb. Lundkvist sucht nach Erklärungen, warum dieser Betrieb so vermurkst ist, warum kein Geld da ist, obwohl doch eigentlich viel zu viel Geld da ist. So ist es, genau so, man möchte ihm nach jeder Zeile, nein, nach jedem Wort zustimmend auf die Schulter klopfen, ihm verständnisvoll zunicken, nur leider sitzt der Autor und Künstler natürlich nicht neben einem, weil er wahrscheinlich gerade wieder in irgendeiner Bar Wein ausschenkt und Gläser abspült, damit er weiter Kunst produzieren kann, die keiner kauft, nur um in noch einer Gruppenausstellung dabei zu sein, die er in seinen Lebenslauf schreiben kann.

Alles für den Lebenslauf

Es könnte eine Autobiografie sein, ist es aber nicht. Der Text ist fiktional. So viele Übereinstimmungen es auch zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor geben mag, so viele Übereinstimmungen gibt es auch zu dem Heer an Kulturarbeitern, das sich von Praktikum zu Praktikum, von Volontariat zu befristeter Stelle, von Doktorarbeit zu Stipendium zu befristeter Stelle, von Gruppenausstellung zu Gruppenausstellung zu Gruppenausstellung hangelt. Alles für den Lebenslauf. Einnahmen haben sie keine, aber kulturelles Kapital sammeln sie an.

Der Autor versucht sich an Verständnis, weiß aber um seinen eigenen Irrsinn, was das Büchlein so fies und wahr und irgendwie auch traurig macht. Obwohl es das gar nicht sein will. Lundkvist will sich und anderen die Augen öffnen. Das glaubt man am Anfang noch. Man merkt aber schnell, dass er sehr genau weiß, dass alle um ihre Lage wissen.

"Aber ich war nicht allein. Zusammen mit so vielen anderen zeitgenössischen Künstlern und anderen kulturellen Produzenten, die dasselbe tun, machten wir einen Unterschied. United we stand, divided we fall, wie man so schön sagt. Und vereint standen wir und fielen gleichzeitig." Und dann wird er stellenweise so liebevoll bösartig, sich selbst und allen Künstlern und Autoren gegenüber, dass man sich wünscht, er würde vor einem stehen, einem den Text ins Gesicht brüllen und einen dann in den Arm nehmen. 

Künstler, ok, aber Autor sein?

Er ist sich sicher, dass mehr Menschen als je zuvor Künstler und Autoren sein wollen. Er will beides. Und schreibt: "Das Künstlerding war ein bisschen seltsam, aber das Autorending war völlig bescheuert." Den Wunsch, Künstler sein zu wollen, den versteht er noch. So ein Künstlerleben stellt man sich ja wahnsinnig glamourös vor. Openings, Alkohol, Parties, okay. Klingt irgendwie nach Spaß. Aber auch nur so lange man noch nicht selbst betrunken durch eine Ausstellung gestolpert ist. Dass jemand davon träumt, Autor zu sein: verrückt, sagt er, versteht er nicht. Man starrt Ewigkeiten auf einen Bildschirm, sieht Ewigkeiten niemanden, dann erscheint alle paar Jahre irgendein Text, für den sich niemand interessiert – und man starrt wieder Ewigkeiten auf einen Bildschirm, sieht Ewigkeiten niemanden. Autoren haben nicht einmal Openings, auf denen sie sich betrinken können. Autoren haben nur ihre Einsamkeit. Er gibt zu: "Diese Einsamkeit ist gelegentlich dazu benutzt worden, großartige Literatur zu produzieren." Und schiebt hinterher: "Aber die Literaturgeschichte hatte ziemlich klar gemacht, dass noch nicht einmal die Produktion großartiger literarischer Werke die Einsamkeit verschwinden lässt." Alles schlimm also.

Was ist eigentlich das Problem in diesem Kulturbetrieb? Alle kennen natürlich das Problem, so Lundkvist, nur spricht niemand darüber. Die Kunstwelt bestehe hauptsächlich aus Leuten wie ihm. Aus aufstrebenden Künstlern, die meist doch nicht aufstreben, aber immerzu versuchen aufzustreben. Und das auch noch selbst finanzieren, indem sie eigenes Geld oder das der Familie investieren. Statt Kunst, die sich mit Profit verkaufen lässt, produzieren sie mehr und mehr Ausstellungen für immer längere CVs. "Es gab die Superreichen, die in die Kunst reicher Künstler investieren, und die Geld verlierenden Künstler, die in ihre eigene Kunst investieren. Es gab die niemals auftsrebenden Künstler, zu klein um in sie zu investieren und die Blue-Chip- Künstler, die zu groß sind, um zu scheitern."

Wenn der einzige Investor du selbst bist

Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich hat dafür den Begriff der Siegerkunst geprägt. Siegerkünstler sind laut Ullrich beispielsweise Georg Baselitz, Danh Vo und Anselm Reyle, Lundkvist selbst nennt Damien Hirst. Siegerkünstler haben Erfolg in der Kunstwelt, dieser Erfolg macht sich in unvorstellbar hohen Preisen bemerkbar. Sieger sind aber nicht nur die Künstler, sondern auch ihre Sammler. "Siegerkunst ist also Kunst von Siegern für Sieger", schreibt Ullrich.

Die Launen von Lundkvist und seinem Ich-Erzähler sind so weit unten, man wartet als Leser nur darauf, dass er einem den Begriff Verliererkünstler um die Ohren haut. Das passiert nicht. Das wäre dann doch zu plakativ. Verliererkunst von Losern für, ja, für wen eigentlich? Verliererkunst kauft ja nicht einmal jemand. Lundkvist umschreibt lieber über 100 Seiten lang, wie er und so viele andere sich erfolglos durch die Kunstwelt schleifen. Lundkvists Protagonist hält sich mit diversen Geldjobs über Wasser, er arbeitet beispielsweise wie gesagt in einer Bar. Abends. Er schenkt natürlichen Wein aus und fühlt sich dabei ganz großartig, weil er sich in einer großen Tradition sieht. "Es ist eine wahrhaft noble Tradition, ein Künstler und ein Autor zu sein, der in einer Bar zu arbeitet." Endlich fühlt sich der Protagonist einmal gut.

Du wirst immer nur ein Follower sein 

Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Internet und den sozialen Medien. Die sozialen Medien machen vieles einfacher, aber auch sehr viel um einiges komplizierter. Lundkvist klingt nüchtern: "Es war klar, dass du immer nur ein Follower sein würdest, egal wie viele Follower du auf deinem Social Media Account hattest." Einige Seiten später wird er euphorisch. Das Internet bietet einem immer mehr an, als man sich jemals wünschen könne. Und da das Internet eh zu viel von allem hat, ist es ja auch sicherlich okay, wenn man sich bedient: an Texten, Bildern, Musik, Ideen etc. Er habe das auch gemacht, irgendwann wurde das Kopieren Teil der künstlerischen Praxis von vielen. "Internet scherte sich nicht. Internet bemerkte es nicht mal."

Ja, doch, das macht das Internet schon. Das Internet stört sich daran, wenn Dinge kopiert werden. Das ist dann auch die Stelle, so um Seite 90 herum, an der man langsam genug hat, weil Lundkvist außer Resignation und einer so-ist-das-halt Attitüde nichts anzubieten hat. Und klar, das ist sein Konzept, und einen Ratgeber würde man natürlich auch nicht lieber lesen wollen. Er legt den Finger in die Wunde und bohrt darin herum, damit es richtig weh tut.

Wohin diese Haltung führt, ach, ist ja nur das Internet, merkt schon keiner, kann man fast täglich mitverfolgen. Arbeiten der Künstler Marius Sperlich, Tony Futura und anderen wurden gerade im Musikvideo "Wobble Up" von Chris Brown kopiert, die Künstlerin Stephanie Sarley macht häufiger diese Erfahrung. Zuletzt hat sich die norwegische Sexshop-Kette Kondomeriet an ihrem Food Porn bedient und dreist kopiert. Sarley machte wie aktuell Marius Sperlich auf ihrem Instagram-Account auf den Diebstahl aufmerksam, die Postings hat sie mittlerweile gelöscht. Die wütenden Kommentare ihrer Fans bei Kondomeriet stehen immer noch.

 "Hier spielt sich der Niedergang der Internetkünstler ab", kommentierte der belgische Meme-Künstler Tom Galle auf Facebook in der Diskussion um den Chris Brown-Vorfall. Und Stephanie Sarley ergänzte: "Ich glaube, Social Media hat den Weg für zu viel Ausbeutung in den kommerziellen Medien frei gemacht, die es schon gab und die jetzt ziemlich beschleunigt wurde. [...] Die Originalkünstler könnten mehr kosten oder wollen vielleicht die Rechte nicht verkaufen. Also stehlen sie die Bilder der Leute einfach und setzen notfalls ihre Armee von Anwälten bei der Hand", schreibt sie weiter. Eine Lösung für das Problem gibt es nicht, weil Künstler heute kaum mehr auf die Sichtbarkeit in den sozialen Medien verzichten können.

Daher auch die Resignation von Lundkvist. Der Kulturbetrieb ist vermurkst und viel zu viele haben es sich darin trotz all der Unannehmlichkeiten gemütlich gemacht. Gemütlich ist es natürlich nicht, aber es könnte eines Tages ja vielleicht gemütlich werden, wenn eines dieser Openings, durch das man betrunken stolpert, zum Durchbruch führt. Verliererkünstler, das sind dann nur noch die anderen.

Übersetzungen der Textpassagen und Zitate: Monopol-Redaktion