Es ist ein wenig Spaß, aber auch viel Ernst dabei. Anderthalb Wochen nach dem verheerenden Brand in der Pariser Kathedrale Notre Dame machen sich Architekten, Künstler und Photoshopper professionelle und satirische Gedanken darüber, wie die Kirche in Zukunft aussehen soll. Schon kurz nach dem Feuer hat die französische Regierung einen internationalen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau des eingestürzten Spitzturms ausgelobt, und die ersten Antworten von prominenten Erbauern ließen nicht lange auf sich warten. So meldete sich beispielsweise der britische Stararchitekt Norman Foster in der britischen "Times" zu Wort. Dort, wo Notre Dame nun einen verkohlten Dachstuhl und eine Plastikplane als Regenschutz trägt, schlägt Foster ein Glasdach und ein spitzes kristallartiges Türmchen inklusive Aussichtsplattform vor.
Der Architekturwettbewerb sei laut Foster eine "unwiderstehliche Möglichkeit" für Architekten, dem ikonischen Bau ein zeitgemäßes Gesicht zu geben. Eine Wiederherstellung des Zustandes vor dem Brand sei nichts als eine "historische Travestie", denn eine Originalform des Gebäudes existiere nicht. So stammt der eingestürzte Turm von einer Erweiterung von Notre Dame im 19. Jahrhundert, auch vorher wurde das Gotteshaus immer wieder aus- und umgebaut. Unsere heutige Vorstellung von der Gotik ist zum größten Teil eine kunsthistorische Fantasie.
Fosters Plädoyer für eine modernisierte Notre-Dame stieß trotzdem nicht nur auf Zustimmung. "Eine gotische Kathedrale ist keine Konferenzhalle in Essex", kommentierte ein Nutzer auf Twitter. Eine Fotomontage mit Fosters Reichstagskuppel auf dem Kathedralendach ließ nicht lange auf sich warten.
Die Neugestaltung von Notre Dame, die der französische Präsident Emmanuel Macron eilig zur Chefsache erklärte, ist auch eine Verhandlung, an welche Form von Vergangenheit sich eine Stadt und ein Land erinnern will. Die Vorschläge zum Wiederaufbau flogen bereits durch die Architekturwelt, als der Dachstuhl noch rauchte und reichen von einer scharfen Metallspitze über den öffentlichen Dachgarten bis zum Minarett als Erinnerung an die Opfer des Algerienkrieges (zuverlässig empörte Reaktionen auf rechten Online-Portalen inklusive). Für den Wettbewerb interessieren sich inzwischen nicht nur Architekten. Auch der belgische Künstler Wim Delvoye, der für seine ironisch gotisch-verschnörkelten Metallskulpturen bekannt ist, hat angekündigt, einen Entwurf einzureichen.
Dabei geht es nicht nur um architektonische Rekonstruktion, sondern auch um einen Kommentar zum Umgang mit Kulturgut. Warum löst Notre Dame eine Flutwelle an Spendengeld aus, wenn anderswo jegliche Mittel zur Erhaltung von historischem Kulturerbe fehlt? Wenn in Frankreich so viel Wut über soziale Ungleichheit herrscht?Darf Notre Dame andererseits vom Wohlwollen reicher Sponsoren abhängig sein? Die Künstler Tom Galle und Ben Urbain imaginierten angesichts der Millionen-Spendenzusagen der Luxusunternehmer Pinault und Arnault eine Kathedrale mit Louis-Vuitton-Logos. Ein anderer Twitter-Nutzer befürchtet ein Szenario mit Notre Dame als gläsern globalisierte Shoppingmall.
Dass die verbrannte Kathedrale auch die Photoshop-Fantasie von Meme-Künstlern und anderen digitalen Scherzkeksen befeuert, ist nicht weiter überraschend. Im Netz kursieren Bilder von Notre Dame mit Zaha-Hadid-Dach, sowjetischen Brutalismus-Blocktürmen und futuristischer Fantasy-Fassade. Die zukünftige architektonische Wahrheit wird wahrscheinlich irgendwo zwischen den Extremen des gotischen Märchenparks und dem verspiegelten Stararchitektentraum liegen. Doch die Diskussionen so kurz nach dem Brand zeigen, dass Redebedarf darüber besteht, wie steinerne Erinnerung funktionieren soll. Die Architektur redet mit.