Herr Gaethgens, Sie haben jüngst ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die brennende Kathedrale" – und nun brennt Notre Dame. Ist das nicht unheimlich?
In der Tat. Eine schreckliche Nacht liegt hinter uns. Ich saß mit meiner Familie und mit Freunden vor dem Fernseher. Der Titel meines Buches stand mir da sofort vor Augen, obwohl ich mich mit der Kathedrale von Reims beschäftigt habe. Reims war im Ersten Weltkrieg, im September 1914, von den Deutschen bombardiert worden. Ein Holzgerüst am Nordturm der Kathedrale geriet in Brand. Am Ende war die ganze Kirche bis auf die Außenmauern zerstört. Notre Dame wurde glücklicherweise weniger stark beschädigt.
In beiden Fällen begann das verzehrende Feuer mit brennendem Holz am Dach. Ist das der neuralgische Punkt vieler Kathedralen?
Früher waren die Dächer aus Holz und damit in der Tat anfällig. Notre Dame hatte noch ihren ursprünglichen Dachstuhl aus Holz, der nun endgültig hinüber ist. Beim Wiederaufbau von Reims verwendete man schon kein Holz mehr.
Sie haben viele Jahre in Paris gelebt, von 1995 bis 2007, waren Gründungsdirektor des Centre allemand de l'histoire de l'art. Sind Sie oft an Notre Dame vorbei gegangen?
Fast täglich.
Welche Bedeutung hat Notre Dame für Paris?
Unsere Anteilnahme ist deshalb so groß, weil es um das Charisma des Gebäudes geht, um seine Aura. Und eine solche Aura entsteht nur durch Geschichte, quer durch die Jahrhunderte. Die vier großen gotischen Kathedralen Frankreichs – Notre Dame, Reims, Chartres und Amiens – haben sehr unterschiedliche Funktionen. Notre Dame ist die älteste, in der Mitte des 12. Jahrhunderts begonnen. Reims war seit dem frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert die Krönungskirche der Könige. Notre Dame ist Sitz des bedeutendsten französischen Erzbistums. Und sie hängt eng mit den mittelalterlichen Kreuzzügen zusammen. Der französische König sah sich als wichtigsten Verteidiger des Christentums und nannte sich rex christianissimus, allerchristlichster König. Ludwig der Heilige hatte 1239 die Dornenkrone Christi erworben, die in Notre Dame aufbewahrt wird. Barfüßig, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, zog Ludwig in die noch unvollendete Kirche ein. Über die Notwendigkeit der Kreuzzüge war schon Ende des 12. Jahrhunderts in Notre Dame gepredigt worden. All das ist von großer symbolischer Strahlkraft.
Notre Dame gilt demnach zu Recht als Wahrzeichen von Paris.
Der Begriff ist zu klein. Auch der Eiffelturm ist ein Wahrzeichen oder der Louvre. Die enge Verbindung von noch lebendiger Geschichte und dieser Aura macht die bewegende Anteilnahme am Schicksal von Notre Dame einzigartig. Wir leben im 21. Jahrhundert, Kirche und Staat sind getrennt, doch gerade den geschichtsbewussten Franzosen bleibt dieses Kirchengebäude nah.
Staatspräsident Macron war sofort in der Nacht am Ort des Geschehens. Musste er das tun?
Ein solches Gebäude macht die Geschichte lebendig und gegenwärtig, in der auch Macron steht. Als die Deutschen die Kathedrale von Reims beschossen hatten, wurde sie zur Märtyrerin – obwohl eine Kirche kein Mensch ist. Durch dieses Attentat der Deutschen bekam sie eine ganz andere Sprachform. Nach Neuaufbau und Wiedereröffnung 1938 war sie buchstäblich wiedererstanden. Adenauer und de Gaulle waren mutig genug, von diesem Ort 1962 die deutsch-französische Freundschaft ausgehen zu lassen. Wir profitieren davon noch heute.
Wie wird es mit Notre Dame weitergehen?
Ich bin gespannt, ja aufgeregt, wie es nach dem Brand in ihrem Inneren aussehen mag. Balken müssen von der Decke herab gestürzt sein. Wie wird es dem Altar ergangen sein? Er bekam in der Zeit Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs, eine große Bedeutung. Ludwig XIII. musste 23 Jahre warten, bis ihm ein Sohn und Nachfolger geschenkt wurde. Er hatte darum ein Gelübde abgelegt, Frankreich der Madonna zu unterstellen. Wie Ludwig XIII. der Gottesmutter Krone und Zepter überreicht und Ludwig XIV. daneben kniet, ist in Notre Dame am Altar dargestellt. Sollten diese Statuen aus dem beginnenden 18. Jahrhundert zerstört sein, ginge ungeheuer viel Geschichtsbewusstsein verloren. Nach der Revolution krönte sich Napoleon selbst in Notre Dame. Und bei Victor Hugo wurde Notre Dame zum Werk des Volkes. Macron ist Teil dieser langen Geschichte.
Ist Notre Dame über Frankreich hinaus ein Menschheitserbe? Sollte weltweit für den Wiederaufbau gespendet werden?
Unbedingt. Diese Kathedralen wie alle großen Monumente – denken Sie an Palmyra – gehören nicht nur einem Land, auch wenn sie Teil der nationalen Identität sind. Die Franzosen brauchen Notre Dame, und wir brauchen Notre Dame auch. Es wird eine große Solidarität geben, wie schon nach der Beschießung von Reims. Vor allem die Amerikaner engagierten sich da sehr und spendeten sofort. Nach 1914 wurde diskutiert, ob man die Ruine der Kathedrale nicht erhalten solle, als ewiges Mahnmal gegen die „barbarischen Deutschen“. Eine solche Diskussion werden wir jetzt nicht haben.
In früheren Zeiten hätte man einen Kathedralenbrand in der Karwoche typologisch überhöht.
Im späten Mittelalter wäre eine solche Katastrophe als Strafe Gottes für irgendwelche Sünden gedeutet worden.
Und was lernen wir heute daraus?
Die enorme emotionale Anteilnahme des ganzen Landes ist bewundernswert und zeigt, dass wir eine große Verantwortung gegenüber solchen Monumenten haben. Wir müssen sie schützen und restaurieren. Wir müssen uns um sie kümmern.