Der Künstler als Athlet. Das klingt sportlich. Das klingt nach Wettbewerb. Das klingt vor allem nach Erschöpfung. Der Künstler als High-Performer, ist der Künstler am Limit. Physisch und psychisch.
Brad Troemel, der amerikanische Künstler, von dem dieser Vergleich stammt, sagt: bad luck, so ist das eben in Zeiten sozialer Medien.
Zugegeben, der Essay "Athletic Aesthetics" von Troemel ist aus dem Jahr 2013. Damals war Tumblr noch das große Ding, Instagram gab es zwar schon, so recht los ging es aber erst fast zwei Jahre später. "If a Tumblr note has no notes, is it art?", fragte sich Troemel damals. Heute würde die Frage lauten: "Wenn ein Posting auf Instagram keine Likes bekommt, ist es Kunst?" Nach der Logik von Troemel: Egal, rhetorische Frage, denn um ein einzelnes Werk geht es nicht mehr. Der Künstler muss ständig senden, muss zur Marke werden. Der Künstler ist das Meisterwerk.
Die Konkurrenz im Netz ist groß, der Künstler ist einer von vielen, muss sich bemerkbar machen, muss auffallen. Das kann Künstler in eine Krise stürzen, gab Cory Arcangel schon im Jahr 2006 auf einem Panel in New York zum Thema "Net Aesthetics" zu. Er nannte es das "fourteen-year-old-Finnish-kid-syndrome", weil es Menschen gibt, die herausragende Dinge im Internet erschaffen – und sich nicht als Künstler sehen.
Laut Troemel ist die Lösung des Problems einfach. Überwältigung statt Inhalt, denn: Wer viele Bälle Richtung Tor schießt, trifft irgendwann. Je mehr gepostet wird, desto höher die Chance, dass ein Viralhit dabei ist. Und wenn ein Posting wenige oder keine Likes bekommt, wissen die Follower immerhin, dass der Künstler noch da ist. Künstler und Publikum versichern sich ständig gegenseitig ihrer Präsenz.
Zeitverschwender ist, wer nicht immerzu teilt, sondern auswählt. Sieger ist, wer durchhält und sich immerzu selbst ausbeutet. Troemel hat dafür den Begriff des "Aesthlete" geprägt, seine Definition: ein Kulturproduzent, der handwerkliches und kontemplatives Grübeln mit Unmittelbarkeit und schneller Produktion übertrumpft.
Allgegenwärtig soll der Künstler sein, so Troemel, soll immer oben im Newsfeed sein. So wichtig wie der Inhalt ist dabei die Geschwindigkeit, in der geteilt wird.
Und heute, sechs Jahre später? Opfer ist, wer zu oft und zu lange das Smartphone nutzt. Es vergeht gefühlt kein Tag, an dem nicht ein Journalist den Erlebnisbericht über seinen kalten Entzug publiziert. "How quitting Instagram made me appreciate art again", titelte beispielsweise "Artsy" kürzlich. Den Autor Scott Indrisek störte sein eigenes Social-Media-Verhalten. Ihn nervte, dass er durch Ausstellungen ging und überlegte, was er am besten wie für Instagram fotografiert. Und wenn das Posting nicht lief, grübelte er, warum das so ist.
Same? Same. Obwohl, ich fotografiere selten in Ausstellungen, außer – schuldig! – es handelt sich um eine instagrammige Installation. Auch das störte Scott, so lange das Smartphone und Instagram dabei sind, ist alles potenziell interessant. Seine Geschichte hat ein Happy End: Instagram ist gelöscht und das Kunsterlebnis gerettet. Statt auf Likes zu warten, führt er jetzt wieder angeregte Gespräche über das Gesehene und Erlebte. Das klingt nach maximaler Vereinfachung. Nur hat er eben bei sich ein Suchtverhalten entdeckt und ein bisschen abstinent, das funktioniert bei Suchtkranken nicht – als solchen beschreibt er sich.
Natürlich gibt es längst Studien, die belegen, dass man mit Smartphone nicht weniger aufmerksam Kunst betrachten kann. Wie es auch Studien gibt, die eindrücklich nachweisen, dass Instagram sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. Jetzt fehlt nur noch eine Studie, die untersucht, wie sich das Athletentum auf Künstler auswirkt.
"Es ist die Reise, nicht das Ziel", schrieb Troemel, der Aesthlet müsse wie Super Mario ununterbrochen rennen. Spätestens seit den Bundesjugendspielen wissen wir, Sport ist anstrengend, Sport macht müde. Und müden, ausgelaugten Athleten beim Sport zuzusehen, Marathonläufern beispielsweise, ist nicht so unterhaltsam wie einen 100-Meter-Weltrekord zu verfolgen. No offense.
Als Troemel seinen Text schrieb, gab es noch keine Instagram-Stories und kein Instagram-Live, kein Instagram dies und kein Instagram das, es gab nur Instagram-Filter, nervig war maximal die Polaroid-Ästhetik. Gefühlt täglich folgt heute neues Feature auf neues Feature: Gifs, Sticker, Filter, Music, Polls, Fragen, Countdown und irgendwas mit Emojis.
Heute morgen bin ich aufgewacht – ja, meine Hand greift zuerst zum Smartphone und danach erst zur Zeitung –, und eine Künstlerin ging gerade auf Instagram live. Ich war noch halb schlafend im Bett, sie war noch halb betrunken in den Straßen von New York unterwegs. Sie hatte das dringende Bedürfnis, die Energy der Stadt zu teilen, die sie selbst gerade intensiv spürte. Ich sah nur Dunkelheit. Und ein paar Lichter. Am Abend (deutsche Zeit) teilte sie in den Stories mit, dass sie sich heute elegant fühlt. Ich glaube, das hatte etwas mit rotem Nagellack zu tun, ganz sicher bin ich mir nicht. Ein anderer Künstler, dem ich folge, ist seit Wochen in Kapstadt. Ich weiß mittlerweile sehr gut, wie schön der Sonnenuntergang dort ist. Sehr schön ist der Sonnenuntergang in Kapstadt. (Bei Interesse, hier ist der Beweis.)
Sind es die Instagram-Stories oder seit wann benehmen wir uns in den sozialen Medien, als seien wir Z-Promis? Ich schließe mich da nicht aus. Wenn ich irgendwo bin, zeige ich, dass ich irgendwo bin. Und das in der Gewissheit, dass ich anerkennend darauf angesprochen werde, wie viel ich unterwegs bin. Wenn ich nicht zeige, dass ich irgendwo bin, denken meine Follower, ich sei nirgendwo. Also vermutlich im Bett oder auf der Couch, jedenfalls an einem Ort, den es sich nicht lohnt zu präsentieren. Was wiederum gleichbedeutend ist mit: unerfolgreich, nicht gefragt. Schlecht für Freelancer, noch schlechter für Künstler. Künstler sind erst relevant, wenn sie überall passieren.
Troemel hatte einen schönen Gedanken. Künstler sollen so viel teilen wie möglich, schließlich kostet das Publizieren im Netz nichts. Ein Preisschild lässt sich nicht mehr so leicht an eine Arbeit hängen. Macht nichts. Nicht mehr das Werk ist die Ware, sondern die Persönlichkeit des Künstlers. Was verkauft werden soll? Troemel meint: Leistungen wie Unterricht und Vorträge, Konzerte und Bücher. Das setzt voraus, dass der Künstler sich in höchsten Höhen bewegt, also fast auf Augenhöhe mit Beyoncé, damit das Honorar stimmt. Teure Konzerte zu spielen, das ist vielleicht nicht die Kernkompetenz bildender Künstler.
Sechs Jahre später lässt sich auf Instagram nachverfolgen, dass es so einfach nicht ist. Künstler A probiert es mit Drip, Künstler B mit Patreon und Künstler C erfindet sein eigenes Support-System, weil: Von Content, der kostenlos ins Netz gestellt wird, kann niemand leben, schon gar nicht die High-Performer. Patreon und Drip sind Crowdfunding-Plattformen für Inhalte, die hinter Bezahlschranken verschwinden. Von Künstler A kommt eine Mail, es gibt Neues auf "Drip". Künstler B möchte, dass ich mich an einer Verlosung für seine Patreon-Supporter beteilige. Künstler C bittet um Abstimmung, wie er ein Kunstwerk für eine anstehende Ausstellung umsetzen soll – es gibt drei Optionen, ich finde alle gut und stimme deshalb lieber nicht ab. Und dann haben alle drei Künstler zusätzlich zu ihrem öffentlichen Instagram-Profil noch ein privates Profil mit exklusiven Inhalten für ihre Supporter, die sie pro Kopf mit ein paar Euro unterstützen.
Willkommen in der Content-Produktionshölle! Jeder Künstler muss drei Marathonläufer in sich haben, die durchweg 100-Meter-Weltrekorde laufen: Künstler und Publikum am Limit.
Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen sprach sich jüngst auf "Zeit Online" für eine Ethik des Nichtlesens aus. Er empfiehlt informiertes Nichtlesen, etwa des neuen Houellebecq, weil der eh keine Überraschung bereithält, sein Konzept ist nämlich verlässlich der Skandal. Franzen schreibt: "Man liest, um mitreden zu können, und ist dann verärgert über den Energieverlust, der damit einhergeht." Oder über die verlorene Lese- und Lebenszeit.
Für Künstler in den sozialen Medien empfiehlt sich das bedachte Nichtteilen. Man teilt also nicht mehr, um im Gespräch zu bleiben. Man teilt, wenn man etwas mitzuteilen hat. Die schwedische Fotografin Lina Scheynius beispielsweise hat zwischen Ende November 2018 und Ende Januar 2019 nichts auf Instagram gepostet. Am 6. Februar ließ sie ihre Follower wissen, dass sie in der Zwischenzeit neue Arbeiten produziert hat. Die sind jetzt in der Galerie Tanja Wagner in Berlin zu sehen.
Die Kernkompetenz des Athleten ist es, zu einem bestimmten Ereignis in Hochform zu sein und Höchstleistung zu erbringen. Im Stadion, vor Publikum, das wie der Sportler auf dieses Ereignis hinfiebert. Das mag für Künstler altmodisch klingen, verhindert aber, dass unterwegs die Puste ausgeht, und führt vielleicht dazu, dass sich das Publikum angeregt unterhalten fühlt und sich nicht genervt abwendet.