Topografisch ist die Sache mit Hellerau klar: Die erste deutsche Gartenstadt liegt in Dresden; genauer gesagt: am Rande von Dresden. Kulturhistorisch ist die Lage von Hellerau indes komplizierter: War Hellerau nun modern, antimodern, reformmodernistisch, avantgardistisch …, vielleicht sogar etwas abgedreht? Als Experiment im Laboratorium der klassischen Moderne jedenfalls galt die Gartenstadt den Zeitgenossen wie den Nachgeborenen allemal. Heute fungiert sie als Bühne ästhetischer Experimente, internationaler (Tanz-)Kultur, des Dialogs der Disziplinen – und bleibt ein Ärgernis für allzu konservative Bildungsbürger.
Am Anfang von Hellerau aber stand die Sehnsucht einer Epoche, das zu versöhnen, was Industrie, Urbanisierung und Mammonismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts getrennt hatten: Stadt und Land, Natur und Kunst, Ästhetik und Nutzen, Gefühl und Ratio, Geld und Glück. Diese Spaltung ging auch durch die Menschen selbst, die den wachsenden Wohlstand zwar genossen (außer sie waren dessen proletarische Produzenten), aber an dem litten, was schon Rousseau – und nicht erst Karl Marx – "Entfremdung" nannte.
Als Deutschland sich anschickte, in drei Kriegen ein geeintes "Reich" zu werden, begann in Großbritannien eine ästhetische Revolte gegen deren Kollateralschäden. Die "Arts and Crafts"-Bewegung von John Ruskin, William Morris und anderen. Sie alle träumten von der Versöhnung des Handwerks mit der Industrie und erblickten im viktorianisch übermalten Mittelalter das Ideal humaner Kultur. Dieser Traum war angereichert mit einigen höchst aktuellen sozialistischen Ideen.
Der Londoner Büroangestellte Ebenezer Howard wurde fast zeitgleich in den USA vom Bazillus der Utopie befallen, hatte er doch die neoromantischen Dichter Walt Whitman und Ralph Waldo Emerson verschlungen. Howard war wie elektrisiert, kehrte nach Hause zurück und ließ dem Traum die Tat folgen: 1903 entstand die Gartenstadt Letchworth, danach Welwyn. Die "Green Britishness" dieser Reformprojekte hüpfte alsbald auf den Kontinent und fand dort einen begeisterten Resonanzraum in den bildungsbürgerlichen Reformbewegungen um 1900. Da war etwa der Holzfabrikant Karl Schmidt. Dieser produzierte ab 1902 in Dresden mit großem Erfolg anspruchsvolles, handwerklich gediegenes Mobiliar. Auf Fahrradausflügen im Dresdener Umland entdeckte er jenseits der Hellerberge ein idyllisches Gelände, in dem die im schnell wachsenden Dresden explodierenden Immobilienpreise wenig galten.
Schmidt, ohnehin als "Holz-Goethe" verehrt, fand im Nationalökonomen Wolf Dohrn, einem Sproß aus kosmopolitischer Familie, einen Gesinnungsgenossen. Während der Unternehmer von einer hellen, luftigen Fabrik für schöne Möbel und glückliche Arbeiter träumte, hatte Dohrn, dem Deutschen Werkbund als Geschäftsführer eng verbunden, die Vision von glücklichen Menschen in hellen Häusern. Für beides brauchte man Architekten – und fand Richard Riemerschmid, dann Hermann Muthesius und Heinrich Tessenow. Alle drei waren eng vernetzt mit der avantgardistischen deutschen Architektenszene.
Am 4. Juni 1908 gründeten sie die Gartenstadt-Gesellschaft Hellerau GmbH. Binnen weniger Jahre wuchs nun bei Dresden eine Siedlung aus sächsischem Sand, deren Schönheit wie ein Magnet auf vermögende Bürger, Künstler und Intellektuelle aus ganz Europa wirkte. Für den Genfer Tanzpädagogen Émile Jacques-Dalcroze entstand ab 1911 das Festspielhaus, Ausbildungsort und Mekka der internationalen rhythmischen Pädagogik und freien Tanzszene. Adolphe Appia schuf dort ein Experimentaltheater; reformpädagogische Schulversuche kamen hinzu und machten aus der Gartenstadt eine "pädagogische Provinz". Avantgardistische Verleger wie Jakob Hegner fanden ebenso den Weg nach Hellerau wie die Dichter Paul Claudel aus Paris oder Paul Adler aus Prag. Die Namen der übrigen Gartenstädter lesen sich wie ein "Who's Who" der Vorkriegsmoderne.
Eines dieser Hellerauer Kinder aus gutem Hause, der Homme de Lettres Peter de Mendelssohn, hat die Gartenstadt "mein unverlierbares Europa" genannt. Das gilt wohl nur für Erinnerungen, denn faktisch verlief die Utopie im Sande, als "Schlafwandler" den Ersten Weltkrieg entfesselten. Wer nicht an der Front diente, duckte sich – oder verließ fluchtartig die Idylle, die nun auch Feldgrau trug. Helleraus Traum zerbrach in der "Urkatastrophe" des Kontinents. Nach 1918 träumten andere dort weiter, machten Bücher und tanzten, diskutierten und schrieben, erzogen Kinder – oder sich selbst. Das aber ist eine andere Geschichte, die nach 1945 noch anders weiterging, als die Sowjetarmee Teile von Hellerau militärisch nutzte.
Nach der Wende kehrte der alte künstlerische Geist wieder in die längst historisch gewordenen Bauten zurück. Das Festspielhaus etwa zählt heute zu einem der wichtigsten künstlerischen Veranstaltungsorte Dresdens und das auf dem Gelände ansässige Europäische Zentrum der Künste hat eine Strahlkraft, die weit über Stadt und Land hinausreicht. Hellerau gehört eben längst zu unserem Weltkulturerbe, in das sich die heutige Gartenstadt gern einschreiben möchte.