Lieber Nikita Kadan, wie geht es Ihnen und, wenn ich fragen darf, wo befinden Sie sich gerade?
Ich befinde mich gerade in einem Luftschutzbunker, einer ehemaligen Kunstgalerie, die jetzt umfunktioniert wurde. Davor war es übrigens schon einmal ein Luftschutzbunker. Ich bin hier mit anderen Künstlern und ihren Familien.
Letzten Samstag wollten Sie eigentlich zu einer Artist Residency in Österreich aufbrechen. Dort haben Sie ein mehrmonatiges Projekt geplant, das sich mit dem russischen Futuristen Welimir Chlebnikow. Dann wurde Ihr Flug storniert, und Sie sind in Kiew geblieben.
Genau, ich wollte mich mit dem großen russischen Poeten Welimir Chlebnikow zu seiner Zeit in der Ukraine beschäftigen. Er lebte zwischenzeitlich in Charkiw – dort ist er übrigens hingeflohen, um der russischen Armee zu entgehen. Ich wollte das Projekt eigentlich in Krems realisieren und mich dort auf seine Werke konzentrieren, die er in Kollaboration mit ukrainischen Künstlern geschaffen hat. Dieses Werk hat nicht überlebt, es existieren nur Beschreibungen hiervon. Dokumentationen, Kommentare. Das mache ich oft: verloren gegangene Werke rekonstruieren. Die Kunstgeschichte als einen Schlüssel nutzen, der die Paradoxien der politischen Geschichte öffnet. Ursprünglich sollte ich im März und April vor Ort arbeiten. Das Team hat nun vorgeschlagen, den Zeitraum zu verschieben. Ich wäre sehr glücklich, das Projekt in der Zukunft angehen zu können.
Vielleicht ist das eine sehr naive Frage, aber haben Sie selbst aktuell Hoffnung, dass an so etwas bald wieder zu denken wäre? Wie ist die Stimmung unter Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden im Land?
Naja, wir wollen eine Zukunft haben. Natürlich. Aber wir wissen nicht, wie lange dieser sehr unvorhergesehene Zustand in der Welt anhalten wird. Und selbst wir, die damit gerechnet hatten, dass Putin einen großflächigen Krieg in der Ukraine anzetteln wird, sind emotional noch nicht mitgekommen. In den gesamten letzten acht Jahren waren Krieg und Frieden in der Ukraine ziemlich getrennt voneinander. Sie ko-existierten wie Parallelen. Kiew zum Beispiel wurde ein relativ komfortabler Ort. Jetzt, wo es eine Kriegszone geworden ist, merken wir alle erst, was für eine absolute Ausnahmesituation dies darstellt. Ich möchte selbst keine Prognose darüber anstellen, wie sich die Lage entwickeln wird. Vielleicht wird es eine langfristige Sache. Vielleicht können wir in einigen Monaten wieder relativ normal leben. Es hängt übrigens auch vom Westen ab!
Ja, selbstverständlich.
Wir sind als Land natürlich ein ganz anderer Maßstab als Russland. Wenn die Vereinigten Staaten und Europa das wirklich begreifen, verstehen, dass dies nicht nur eine Aggression gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen ist – dann, möglicherweise, haben wir noch eine Chance, und Europa vielleicht auch.
Vielleicht liegt gerade hier das Problem, der Westen hält ja nicht so viel von sich selbst aktuell. Im Kunst- und Kulturbetrieb will man vieles richtig machen, kreist aber oft nur um sich selbst. Die "Nie wieder Krieg"-Aktionen wirken auf mich auch ein bisschen hilflos. Es ist ja bereits Krieg. Wenngleich es natürlich schön wäre, wenn nicht.
Ja, da haben Sie Recht. Aber die Menschen, die dort arbeiten, können uns Ukrainern jetzt mehr Sichtbarkeit geben. Gebt uns einfach ein Mikrofon. Wir haben einige besondere Dinge gesehen, die mit uns allen zu tun haben. Mit den Menschen in Europa. Wenn wir mehr Sichtbarkeit bekommen, könnte das funktionieren. Und wenn die Menschen in Europa, die im Kulturbetrieb tätig sind oder die anderweitig Gehör bekommen, mit der politischen Klasse sprechen, dann wäre das schon eine Menge. Hilfe zu fordern, damit wir uns selbst verteidigen können, und als Friedenswächter herzukommen, um Putin zu stoppen (längere Pause). Europa sollte einsteigen. Ansonsten werden wir zerstampft werden. Dann wird Putin seinen nächsten Schritt in Richtung Westen machen. Ich denke, das ist jetzt ziemlich offensichtlich. Und alle Kriegsrhetorik aus dem Kreml ist absolut anti-westlich. Und anti-demokratisch. Daran gibt es keinen Zweifel.
Sie sind unter anderem auch Teil des Künstlerkollektivs R.E.P. (Revolutionary Experimental Space), das sich 2004 zum Ende der sogenannten Orangenen Revolution gründete. Ändert der Blick als politisch engagierter Künstler den Blick auf die aktuellen Verhältnisse?
Wir sind mit wirklich wildem Kapitalismus überzogen worden in den frühen 1990er-Jahren. Es folgte strenger Konservatismus sehr unterschiedlicher Art. Die Ukraine hat keine lange demokratische Tradition. Aber eine sehr vielfältige Gesellschaft. Und es ist eine echte Demokratie. Vielleicht kein super-high-functioning democracy, aber sie ist echt. Russland ist das nicht. Die russische Staatsideologie ist extrem nationalistisch geworden, extrem right-wing. Sie sprechen ständig von ukrainischem Nationalismus, aber ich sehe ihn hier nicht so sehr – bei Putin allerdings sehr wohl. Natürlich gibt es hier Nationalisten. Sie waren immer hier, sie waren auch auf dem Maidan. Im Donbass. Aber es war immer eine relativ marginale Gruppe. Sie waren nie im Parlament. Sie befanden sich nie im Zentrum der Diskussion – wenngleich sie das immer versucht haben. Sie haben übrigens sogar die russische Propaganda für sich genutzt, um zu zeigen, wie mächtig und stark und fürchterlich sie sind. Nationalisten sind eine von zahlreichen Gruppen in der ukrainischen Gesellschaft, die eine wirklich diverse ist. Sie sind nicht gleichbedeutend mit Ukrainern, wie das die russische Propaganda uns weismachen möchte. Die offizielle russische Rhetorik aber, die von oben nach unten geht, also immer bei Putin direkt beginnt, ist extrem rechts, extrem anti-demokratisch.
Gibt es Ihrer Meinung nach genügend Raum für osteuropäische Perspektiven in der Kunstwelt? Wir sprachen schon darüber, dass viele Menschen und Institutionen stark mit sich selbst beschäftigt scheinen. Ironischer Weise ausgerechnet in den sogenannten kritischen Diskursen. Wenn man da nicht unmittelbar anschlussfähig ist, stelle ich mir das sehr schwierig vor.
Ja, das stimmt. Es gab noch nie so besonders viel Raum für den Osten, für eine post-sowjetische Perspektive in der Kunstwelt. Und jetzt noch weniger, als es zwischenzeitlich vielleicht kurz einmal war. Wir befanden uns in der Ukraine viele Jahre in einem Zustand der permanenten Krise. Erst die Krim, dann der Donbass. Diese Kriege waren nie weg. Aber sie verschwanden bald von der Bildfläche. Der Donbass war, um es mal so zu sagen, aufmerksamkeitsökonomisch nicht wettbewerbsfähig mit den anderen Konflikten. Aber Menschen wurden immer noch getötet. Wir wurden zu einem Land der boring catastrophy. Trotzdem haben wir natürlich unsere eigenen Reflexionen über das entwickelt, was mit uns passiert. Wir haben uns intellektuelle Techniken der westlichen Kunstwelt angeeignet, um Anschluss zu finden – an den Post-Konzeptualismus, beispielsweise. Wir haben gelernt, als internationale Künstlerinnen und Künstler sichtbar zu werden. Haben Verbündete gefunden. Das ist hilfreich. Aber wir haben nicht den Eindruck, dass es ein Mikrofon für Osteuropa gibt. Für die post-sowjetische Welt, man so will. Jetzt leiden wir ziemlich viel, daraufhin gibt es wieder ein bisschen Aufmerksamkeit.
Kann so eine künstlerische Reflexion aktuell stattfinden, ist das überhaupt denkbar unter den derzeitigen Umständen?
Oh, sicher. Ich arbeite weiterhin, auch im Luftschutzbunker. Aktuell fertige ich ein Tagebuch an, mache Zeichnungen. Und ich plane weitere Projekte. Aber es ist wie gesagt auch für uns noch alles ungewohnt, es wird sich zeigen, wie die nächste Zeit wird.
Wenn Sie uns noch etwas auf den Weg geben möchten, was wäre das?
In allen Interviews derzeit sage ich dasselbe: Denkt darüber nach, welchen internationalen Druck ihr auf Russland ausübt. Was kann getan werden, um die Ukraine zu schützen, und damit auch euch selbst? Darüber hinaus: Es gibt viele ukrainische Flüchtlinge. Helft ihnen, eine Unterkunft zu finden, helft, sie zu versorgen. Das wäre schon eine ganze Menge. Macht öffentliche Events, auf denen sie ihre Geschichten erzählen können. Sie sind Zeugen dessen, was gerade geschieht. Hört ihnen zu.