Wie alle Institutionen kultivieren auch Kunsthochschulen im Laufe ihrer Existenz einen aus Personalien, Geschichten und Anekdoten gestrickten Ruf, der ihnen vorauseilt und nachhängt. Als eine der renommiertesten deutschen Kunsthochschulen ist die Städelschule in Frankfurt am Main davon nicht ausgenommen. Um die Akademie ranken sich Erzählungen über unkonventionelle Lehrmethoden, kreative Freiheit, karrierefokussierte Studierende, Exzellenz und Hybris. Einige Kunststudierende, erzählt Nicholas Warburg, geben der Hochschule deshalb den Kosenamen "Slytherin", benannt nach dem Hort dunkler Magie und besonders listiger und ehrgeiziger Zauberlehrlinge in "Harry Potter".
Seinen eigenen Abschluss an der Städelschule hat Warburg zum Anlass genommen, darüber nachzudenken, inwiefern akademische Mythen sich zu Realitäten verfestigen und seinen Studienalltag geprägt haben. Herausgekommen ist die aktuell in der Berliner Galerie Anton Janizewski zu sehende Ausstellung "Graduating Slytherin", für die der 1992 geborene Künstler in die phänotype Rolle des Städelstudierenden geschlüpft ist. Dass diese voller Widersprüche steckt, wird spätestens beim Gang durch die Ausstellungsräume deutlich. Mal übt sich Warburg mit kalkuliert dahingeschluderten Arbeiten im Understatement, mal mimt er den Ölgemälde-Dandy und spielt mit kuschelweichen Bündeln aus Frottee-D-Mark-Scheinen und einer Retro-Sonnenbrille mit eingravierten Münzen auf die Position des marktorientierten entreprenneurial artist an.
Protzen mit kulturellem Kapital
"Natürlich sind Kunstakademien keine Inseln der kapitalistischen Gesellschaft," erklärte Warburg diesen Sommer in einem Monopol-Interview – und forderte einen offeneren Umgang mit Konkurrenzdenken und dem omnipräsenten Druck des Marktes. Dass es sich auch mit kulturellem Kapital protzen lässt, beweist er mit einem Display teils noch eingeschweißter Lektüreempfehlungen der Kunsthistorikerin Isabelle Graw und einem Zitat des ehemaligen Gastprofessors Jason Rhoades, das Amazon-Shopping mit höchster Bildhauerei gleichsetzt. "Michael Jordan Michael Jackson Michael Krebber" heißt es in einem seiner "Titelbilder". Der artists' artist, eine Marke wie jeder andere auch.
Konstitutiv für das freiheitliche Selbstverständnis der Städelschule ist es, dass den Studierenden zum Abschluss kein akademischer Titel verliehen wird. Ganz auf ein Diplom verzichten wollte Warburg jedoch nicht, und so malte er sich zu seiner Graduierungsausstellung einfach selbst eines – samt Voldemort-Siegel und Originalunterschrift von Rektorin Yasmil Raymond und Professor Tobias Rehberger. Nun hängt die Urkunde in neonfarbener Frakturschrift bei Anton Janizewski, bieder umrahmt und von einer Leselampe beleuchtet. Zugreifen lohnt sich: "So günstig bekommt man so schnell kein anderes Werk mit Rehberger-Signatur," scherzt Warburg.
Als Gründungsmitglied des Publicity-Stunt-erprobten Kollektivs Frankfurter Hauptschule beherrscht Warburg das Spiel mit Ambivalenzen. Zu Beginn des Lockdowns quartierte er sich unter Vorwand der Quarantäne im Luxushotel Frankfurter Hof ein; in seiner "Titelbilder"-Serie provoziert er mit sensationalistischen Slogans wie "Fick Dich Suhrkamp" und "Schleff Brinkmann Fassbinder Alles Nazis".
Eine Position frei von Schlagzeilen, Polemik und Pose bezieht der Künstler mit seiner Arbeit "Geisterbahn". Das großformatige Gemälde zeigt einen Fahrplan des öffentlichen Nahverkehrs Frankfurts, datiert auf jenen Tag im Jahr 1968, an dem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Ernst Noltes geschichtsrevisionistische Rede "Vergangenheit, die nicht vergehen will" veröffentlichte. Mit seiner Relativierung des Holocaust löste Nolte den Historikerstreit aus und bediente sich eines Argumentationsmusters, das bis heute immer wieder von nationalistischen und rechtsextremen Meinungsführerinnen und Meinungsführern heraufbeschworen wird.
Spuk der Hauntologie
Mit "Graduating Slytherin" inszeniert Warburg seine Begegnung mit der historienreichen Städelschule und der weiteren Frankfurter Kunstszene als Spukgeschichte. In einem geisterförmigen Wandteppich hat er Begriffe angeordnet, die er mit dem von Derrida eingeführten und maßgeblich vom Kulturtheoretiker Mark Fisher geprägten Begriff der "Hauntology" auseinandersetzt. Fisher beschrieb mit dem Begriff einen Kulturkomplex, der durch Retro-Revivals und das Imitieren vergangener Stile eine seltsam zeitlose Ästhetik formt. Die Gegenwart strebt rückwärts gen einer Vergangenheit, in der die Zukunft noch verheißungsvoll erschien.
Vor der großen Fensterfront der Galerie steht auf einem Sockel erhöht eine leere Glasvitrine, durch die man auf die Altbaugebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite blicken kann. Warburg erklärt die Arbeit als eine Reaktion darauf, dass ein Fenster zur Außenwelt im Zuge eines ausgedehnten Ausstellungsbesuchs oftmals interessanter wird als alle anderen Exponate im Raum. Dem schlechten Gewissen, das sich dadurch oft einstellt, mache "The Outside" ein Ende: Fensterschau und Kunstbetrachtung werden hier eins. Im Rahmen der Ausstellung lässt sich die Arbeit jedoch auch als Ratschlag an angehende Zauberlehrlinge im Umgang mit institutionellen Mythen und Gespenstern deuten: Häufiger mal den Blick nach draußen wagen!