Gegenwartskunst und Nibelungen in Meran

Wie man ein Schicksalslied heute singt

Das Nibelungenlied ist ein deutscher Nationalmythos - was kann es uns für die Gegenwart noch sagen? Dieser Frage geht eine Ausstellung in Meran mithilfe zeitgenössischer Kunst auf den Grund

Was können uns alte, sperrige Nationalmythen noch sagen? Mit der epischen Dichtung des Nibelungenlieds als Ausgangspunkt, versucht "Imagine Worlds", Geschichten über die Gegenwart zu erzählen. Die Ausstellung im italienischen Meran wird grundiert von einer Erzählung aus dem Hochmittelalter, deren Wurzeln noch viel älter sind. Die Sage geht auf die Zeit der Völkerwanderung zurück, allerdings lässt sie sich nicht so recht mit historischen Ereignissen in Zusammenhang bringen. 

Trotz der Bemühungen von Historikern im 19. Jahrhundert bleibt sie eben genau das: eine Sage. Liebe, Macht, Heldentum und ein fluchbeladener Schatz spielen da eine Rolle. Die Handschriften des Nibelungenlieds wurden Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, unter den späteren Bearbeitungen ist Richard Wagners Oper und ein Trauerspiel von Friedrich Hebbel. All das machte die Sage zum Schlüsseltext der Deutschen.

Der Fokus der Schau liegt auf Gegenwartskunst, und er soll europäisch und außereuropäisch sein, so erklärt es Kurator Harald Theiss. Dabei muss man sogleich an die großformatige Papierarbeit von Kubra Khademi denken, Titel: "The Great Battle I", die zwei Drachentöterinnen zeigt. Sie bezieht sich auf einen im heutigen Afghanistan geborenen Dichter aus dem 13. Jahrhundert, und Khademis Umsetzung lässt an die politische Selbstermächtigung von Frauen denken – gerade im Zusammenhang mit dem heute von den Taliban beherrschten Land. 

Die Geschlechterbinarität ein bisschen destabilisieren

Alle Arbeiten verschieben Kontexte und Bedeutungen des Nibelungenlieds ein wenig. Zum Beispiel ist da die Traumszene von Kriemhild, mit der das Epos beginnt. Die Königstochter träumt, dass sie einen Falken aufzieht, der von zwei Adlern getötet wird – schicksalhaft für den Rest der Geschichte. Oliver Larics Skulptur "Sleeping Figure" bezieht sich eigentlich überhaupt nicht darauf, aber der flache, reliefartige und hohle 3D-Druck erinnert an Illustrationen der Sage aus der Romantik. 

Tatsächlich reproduziert der österreichische Künstler die Kopie einer römischen liegenden Figur, die ursprünglich einen Hermaphroditen zeigte, dann aber vom Kopisten zu einer schlafenden Venus gemacht wurde. Laric fügte die männlichen Geschlechtsmerkmale wieder hinzu, um die Binarität ein bisschen zu destabilisieren. So funktionieren die Verbindung vieler Werke in der Schau: über Ähnlichkeiten, wie ein Warburg'sches Wiederauffinden von Motiven und Erzählbruchstücken. 

Um wirkliche Fragmente geht es in einem Werk von Zuzanna Czebatul, einer Skulptur, für die die Künstlerin zwei Frauenfiguren von der Fassade des Louvre in Paris gescannt und nachgebildet hat. Sie stehen dicht beieinander, angedeutet sind noch die Architrave der Fassade zu erkennen, und beide fassen einander zärtlich, aber flüchtig an der Hand. Weil das Nibelungenlied alles in dieser Ausstellung grundiert, trägt Czebatuls Skulptur "Probably a Robbery", die eine Subversion klassizistischer Machtarchitektur ist, das Echo von Kriemhild und Brunhild. Dabei geht es eigentlich um die Karyatiden, die in klassizistischer Architektur Sklavinnen darstellen sollten und Gebäudeteile halten. Hier werden sie von ihrer Funktion befreit, und man kann ein angedeutetes queeres Narrativ erkennen.

"Bilder werden Worte, Worte werden Bilder"

Der Originaltext des Nibelungenlieds ist spröde und arm an Beschreibungen, ganz anders als es Wagners Vorstellungen nahelegen, auch anders als es Tolkiens Roman "Der Herr der Ringe" vermuten ließe, der sich aus dem gleichen Mythenvorrat speist. Der Untertitel der Ausstellung lautet "Bilder werden Worte, Worte werden Bilder". 

Das komplizierte Verhältnis von Text und Illustration durchzieht die Schau sozusagen als Metaebene. Nun könnte man sagen, dass diese Relation zu den großen Themen der Gegenwartskunst überhaupt gehört: Wie lässt sich das Abstrakte in Objekte übersetzen – und umgekehrt? Nasan Turs "History is Fiction" von 2016 geht den Weg vom Gegenstand aus, denn die Arbeit ist ein Druckstock, der an der Wand hängt, und mit dem auch offensichtlich schon gedruckt wurde. Der Titel könnte auch als Motto für die ganze Ausstellung gelten – Geschichte, das ist irgendwie eine Fiktion. Ausgedachte Stoffe machen auch Geschichte, und ihre Spuren lassen sich in der Gegenwart finden. 

Nur wenige Arbeiten haben einen direkten Bezug zum Nibelungen-Stoff, zum Beispiel eine Kollaboration von Jonathan Meese und Alexander Kluge, für die der Schriftsteller einen Text verfasst und der Maler in kleinformatigen Bildern die Geschichte aus der Perspektive des Antihelden Hagen von Tronje neu erzählt. Im Titel trägt Philipp Fürhofers "Siegfried III/1" von 2012 den Nibelungenbezug. Der Schaukasten ist mit einer dramatischen Berglandschaft bemalt, hinter der eine Stadtszene und Spülschwämme zu sehen sind. 

Dahinter lauert die Zerstörung von Lebensräumen

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Fürhofer mit Wagner auseinandersetzt, seine Wandarbeiten sehen oft passenderweise ein bisschen aus wie die erdigen Riesenformate von Anselm Kiefer, oder manchmal wie Röntgenbilder, mit denen er die deutsche Ideologie durchleuchten will. Der Künstler, der auch als Bühnenbildner arbeitet, inszeniert den ganzen Wagner-Komplex um Natur und Nation, aber dahinter, so suggeriert der Kasten aus Acryl, lauert schon die Zerstörung von Lebensräumen.

Die physischen Räume im Kunsthaus Meran sind verwinkelt, die Exponate verteilen sich in einem der alten, dicht gedrängten Patrizierhäuser in der alpinen Kleinstadt und auf Plattformen, die nachträglich zwischen zwei Gebäude gesetzt wurden. Der begrenzte Platz lässt manchmal an Bühnen denken, an Kammerspiele, wo verschiedene Medien auftreten. 

Beinahe ganz oben im Kunsthaus treffen dann noch Werke aufeinander, die sich um das Versagen von Sprache drehen. Eine Lichtinstallation von Julia Bünnagel verkündet "Where words end" – auch das lässt sich programmatisch lesen, als wäre sich die Ausstellung der Unmöglichkeit ihres eigenen Projekts bewusst. Gleich gegenüber, auf einem niedrigen schwarzen Podest dann eine Keramik der estnischen Künstlerin Kris Lemsalu, deren Arbeiten normalerweise farbenfroh-fantastische Mischwesen und -welten abbilden. Diese hier ist ganz schwarz, ein Gewirr aus Händen, Eiskrem und Pflanzen bilden eine Art Schale. All dieser Obskurantismus könnte unheimlich wirken, würde es nicht gleich daneben in Jeppe Heins Neonarbeit beschwichtigend heißen: "This is a magic moment". 

Kulturpolitische Kontextverschiebung

Am Ende bleibt doch die Frage, warum diese Mythen so wirkmächtig sind, und weshalb die Abenteuer von Siegfried, Kriemhild, Hagen und allen anderen noch immer ein solches Echo haben – dies lässt sich wahrscheinlich nicht abschließend beantworten. Aber es geht nicht nur um die Aktualisierung von mittelalterlicher Literatur, sondern auch um eine leise Restitutionsdebatte. 

Es gibt eine ganze Reihe von Handschriften des Nibelungenlieds, die im Hochmittelalter in verschiedenen Dialekten angefertigt und gesammelt wurden. Diese fanden sich dann in fürstlichen Bibliotheken, auf Dachböden oder in alten Burgen wieder. Eine davon gehört der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, entdeckt wurde sie aber in Südtirol, im Vinschgau. Im Laufe der Ausstellung wird das Buch auch nach Meran kommen, und neben der Weitergabe durch Medien und Zeiten erfährt die Sage noch eine weitere Kontextverschiebung, diesmal eine kulturpolitische.