Essays von Natasha Stagg

Alles ist schlimm und kaputt und groß und wild

Glitzernde Peripherie der Kunstwelt (Symbolbild)
Foto: Pixabay

Überdosis Glamour in der Kunstwelt (Symbolbild)

Natasha Stagg ist Prophetin und Ikone der digitalen Gegenwart. Nun beschreibt sie Exzess und Ernüchterung der New Yorker Kunstszene. Das ist manchmal ermüdend, macht aber süchtig

Natasha Stagg ist eine Ikone. Vielleicht ist die New Yorker Autorin auch gerade erst auf dem Weg, sich den Status einer Ikone zu erschreiben. Ihre jüngst erschienene Essaysammlung "Sleeveless. Fashion, Image, Media, New York 2011-2019" sucht man in den einschlägigen Berliner Buchhandlungen nämlich vergeblich, während sie die Veröffentlichung ihres Buches in Paris, Los Angeles und New York feierte. Und darum geht es auch in ihren Essays, um das Leben der Kreativen in der New Yorker Mode- und Kunstszene. Ihre Texte erscheinen in den hipsten Magazinen: "n+1", "Texte zur Kunst", "Sleek", "Spike" und "Dazed & Confused" beispielsweise. 

Man kann es sich vorstellen, alles ist schlimm und kaputt und gleichzeitig groß und wild. Drogen und Sex auf dem Klo, Alkohol und Essen im VIP-Bereich. An die Namen ihrer Sex-Partner erinnert sie sich selten, obwohl man sich hier und da wieder begegnet. Ihren Tinder-Dates erzählt sie irgendetwas, besonders über ihr Alter. Und dann trifft sie irgendwen auf einer Party, der Sex haben will mit ihr, und da sie in dieser Nacht auch gern Sex hätte, fällt die Wahl eben auf ihn.

Partys waren mal cool, vielleicht sind sie es noch, so sicher sind sich die New Yorker da nicht, die zugezogenen New Yorker natürlich. Keiner will berühmt sein und doch drücken sich alle auf Partys herum, suchen die Nähe zu Künstlern und Kuratoren, zu den Reichen und Berühmten, trinken und schlafen mit ihnen, um sich am nächsten morgen "fucked up" zu fühlen. "Getting fucked up is cool", sagt eine Frau am Nachbartisch in einer Cafeteria. Stagg hört zu und schreibt mit.

Aus Langeweile berühmt geworden

Stagg wurde vor einigen Jahren international bekannt, weil sie in ihrem ersten Roman den Influencer-Hype gewissermaßen vorhergesehen hat. Eine junge Frau arbeitet in einer Mall, der Job ist langweilig, ihr Leben auch, also sucht sie online nach einem aufregenderen Leben. Das klappt erstaunlich schnell und gut, weil sie einen Typen kennenlernt, mit dem sie sich rasend schnell zu einem Influencer-Pärchen hochpostet. Sie kündigt ihren Job und reist mit ihm quer durch Amerika von Party zu Party, die sie entweder selbst hosten oder zumindest als VIPs besuchen. Und wie es immer so ist, der Typ trifft sich auch mit anderen Frauen: Streit, Drama, Trennung.

Colleen denkt über ihre Mediennutzung nach und fühlt sich erst wieder gut, als sie ihr Smartphone aus der Hand legt und sich nur auf eine Sache konzentriert. Das liest sich heute vielleicht etwas banal, weil wir natürlich längst weiter sind, zumindest die Hipster in Berlin. Digital Detox, alles schön und gut, aber wer es mit der Self Care so richtig ernst meint, der fährt am Wochenende in den Wald, sammelt Pilze, kocht sich was Leckeres und dokumentiert alles brav in den Instagram-Stories.

Natasha Stagg 
Foto: Roeg Cohen

Natasha Stagg 

Damals, um das Jahr 2016 herum, waren Staggs Gedanken neu und für Unternehmen und Magazine aufregend, weshalb sie für Beratungsjobs angefragt wurde. Heute gehört sie neben Tavi Gevinson und Jia Tolentino zu der Generation junger Frauen, die im Internet zu Hause sind und erklären, wie die sozialen Medien unsere Gesellschaft verändern. Mit Gevinson, der "Rookie"-Gründerin und Fashion Bloggerin, unterhielt sie sich kürzlich in einem Interview über Instagram und Mode im digitalen Zeitalter. Beide sind sie sich einig, dass der Influencer-Hype vorbei ist, weil perfekte Bilder vom perfekten Leben irgendwann nicht mehr überzeugen und als das gesehen werden, was sie sind: eine Fiktion.

Darum geht es auch in ihren Essays. Stagg läuft durch das Nachtleben in New York, sie stolpert von Party zu Party, tagsüber geht es von Job zu Job, alles scheint neu und wild und glamourös zu sein, dabei sitzt man nur immer wieder gemeinsam bei einem Dinner, erzählt sich gegenseitig, wie toll man die Arbeit des anderen findet – im Zweifel hat man den Namen des Gegenübers nie zuvor gehört – und hofft, daraus einen Profit für die eigene Karriere zu schlagen. "Vielleicht würde die Künstlerin eines Tages ein Porträt der Autorin schaffen, als Gegenleistung für eines der Autorin über sie. So passierte es, sagte ihre Freundin. Sie halfen sich gegenseitig aus", schreibt Stagg in "Press Release".

Ihr Ton ist nüchtern, sie klingt desillusioniert, sie macht sich und dem Leser nichts vor und ist trotzdem on fire, auf Sparflamme zumindest, sie läuft, arbeitet und schreibt immer weiter, weil sie wie alle in der Branche noch die Hoffnung hat, dass in einer dieser Nächte etwas Großes passiert. Dass sie einmal der richtigen Person für ihre Karriere und dem Mann für ihr Leben gegenübersitzt.

Es wird angeklagt, enthüllt, diskutiert

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt: "Public Relations", "Fashion", "Celebrity" und "Engagement". Im ersten Teil beispielsweise geht es um ihr Leben als Autorin. Sie wird zu den heißesten Partys eingeladen, Männer gehen fremd, mächtige Männer fassen Frauen an den Hintern, in den Medien wird über #Metoo geschrieben, es wird angeklagt, enthüllt und diskutiert. Stagg liest mit, geht während der Arbeit aufs Klo und heult oder fantasiert, was beim nächsten Tinder-Date passieren könnte.

Ihr eigener Freund hat sie mit Frauen betrogen, die sich dadurch einen Karrieresprung erhofften. Stagg entscheidet sich, nicht darüber zu schreiben, sie wollte nicht als Opfer dastehen und bemitleidet werden. Sie geht stattdessen, wie nach jeder Trennung, ins Fitnessstudio, rennt auf dem Laufband, versucht zu verschwinden, indem sie immer dünner wird. Am liebsten würde sie mit dem Essen aufhören, aber dann könnte sie nicht mehr ins Fitnessstudio gehen und würde wieder mit dem Rauchen anfangen. Unter dem Titel "To be Fucked" hat Stagg übrigens die schönste Beschreibung für das Leben im digitalen Zeitalter aufgeschrieben:

"Ich möchte, dass das Leben weitergeht, sich erneuert und updatet, und ich möchte, dass alles anhält und auf mich wartet. Als ich ein Handy mit Internet bekam, hat sich alles in meinem Leben verändert. Wenn ich über das Internet nachdenke (was unmöglich ist), ist das Gefühl mit einer Verliebtheit vergleichbar, ich fühle mich verliebt, aber auch erdrückt. Ich fühle mich so, als wäre ich in etwas, nicht in jemanden verliebt, oder vielleicht fühlt es sich auch so an, als wäre ich in alle auf einmal verliebt, aber in niemand Spezielles. Ich möchte die Menschen ordnen, die ich kenne, ich fühle mich, als würde ich jeden einzelnen vermissen, den ich je kennengelernt habe und gleichzeitig, als könnte ich gut damit leben, niemanden von ihnen jemals wieder zu sehen."

Auf ein Tinder-Date folgt ein Tinder-Date und noch ein Tinder-Date

Alles ist zu viel und doch kann man nicht genug davon bekommen. Davon sind auch die Karrieren von Künstlern betroffen. Für "Dazed" hat sie eine Künstlerin getroffen, die sie als Ally einführt. Ally macht Selfies und postet nudes, die regelmäßig von Instagram gelöscht werden. Ally hat einen Sugar Daddy, der ihr dies und das bezahlt, Schuhe zum Beispiel, Sex aber hat sie nicht mit ihm, obwohl er ihr bereits genug Geld dafür gegeben hätte.

Ihre Beziehung beschreibt sie wie die zwischen Therapeut und Patient. Er erzählt ihr Dinge, die er seiner Frau nicht erzählen kann. Ihrem Freund gefällt ihr Arrangement nicht, sie stört es nicht, sie braucht das Geld. "Es gehört fast zur Allgemeinbildung zu wissen, dass Einkommen wie dieses, im Verborgenen das sind, was die New Yorker Kunstwelt am Laufen hält", schreibt Stagg. Für Ally ist ihr Sugar Daddy so etwas wie ein Mäzen. Eines Tages schaute Richard Prince bei ihr vorbei, redete zwei Stunden mit Ally und machte dann zehn Minuten lang Fotos von ihr. Die Bilder werden nie irgendwo zu sehen sein, glaubt sie.

Stagg ist Chronistin ihrer Zeit, es geht um sie und New York und gleichzeitig um all jene, die in den 2010er Jahren in der Medien-, Kunst- und Modebranche arbeiten. Alles ist ein bisschen egal, die Köpfe hängen, Jobs sind mies bezahlt und temporär, das Selbst wird optimiert und die Liebe gejagt. Auf ein Tinder-Date folgt ein Tinder-Date und dann noch ein Tinder-Date und dann sagt man sich, dass man "in touch" bleiben sollte, textet noch ein bisschen und verschwindet schweigend. Staggs Buch zu lesen, fühlt sich an wie mit ihr auf dem Laufband zu stehen. Es ist erschöpfend und ernüchternd, es macht müde, es geht nicht voran und trotzdem läuft man weiter mit ihr, hängt an ihren Worten, weil man sich in ihren Worten wiederfindet, mal mehr, mal weniger.