Waschbären sollen ja sehr scheu sein. Die beiden im Archivio Conz schauen jedenfalls nur sehr kurz um die Ecke und hoppeln dann sofort hinter die Regale – etwas unbeholfen, denn ein Mensch in einem Waschbärkostüm erreicht einfach niemals die huschende Eleganz des Originaltiers. Macht nichts, der Effekt ist trotzdem lustig.
Wir befinden uns in einer auf den ersten Blick völlig kunstunverdächtigen Lagerhalle irgendwo in der Nähe des Westhafens, ein paar kleine Schilder weisen den Weg zum Archivio Conz: Hier lagert eine Sammlung von 3000 Objekten, die einmal dem 2010 verstorbenen Italiener Francesco Conz gehörte. Conz, aus einer gutbürgerlichen Familie stammend, hatte sich den Zeitgenössische-Kunst-Virus bei einer Begegnung mit dem Wiener Aktionisten Hermann Nitsch eingefangen und war später vor allem von Fluxus begeistert. Er lud die Künstler wie Nam June Paik, Daniel Spoerri oder den Komponisten Joe Jones in sein Haus in Asolo nahe Venedig ein, wo sie Monate, manchmal Jahre blieben und mit ihm arbeiteten. "Er sammelte eher Künstler als Kunst", erzählt Stefania Palumbo von Supportico Lopez, die das Archivio Conz gemeinsam mit Gigiotto del Vecchio leitet – früher agierten die beiden als Galeristen, jetzt ist die Galerie zu, und sie konzentrieren sich darauf, den Conz-Nachlass aufzubereiten, bekannt zu machen und die Editionen zu vermarkten, die Conz gemeinsam mit den Künstlern aus seiner Sammlung produzierte.
Im Eingangsbereich lassen die hohen Regale des Archivs Platz für eine kleine Ausstellung mit Werken des amerikanischen Fluxuskünstlers Geoffrey Hendricks, der gern Objekte und Figuren himmelblau anmalte, mit Wolken drauf, und manchmal bei seinen spirituell anmutenden Aktionen und Performances auch den eigenen Körper. Er steckte Himmelsbilder in Schubladen und Kühlschränke, dazu Stöckchen, Erde, gefundene Steine, fertigte kleine Schaukästen mit Objekten an, die an seine Träume erinnern. Wie immer bei musealisiertem Fluxus, sieht vor allem man vergilbte Vergänglichkeit. Man könnte glatt melancholisch werden, wenn nicht diese Waschbären wären und schnüffelnd an das eigentliche Kunstereignis erinnerten: eine Bootsfahrt mit Performances. Los geht’s zum Tegeler Weg, wo ein großes Ausflugsschiff anlegt, auf dem eine blonde Frau fröhlich winkt: Es ist Yael Salomonowitz von der Berliner Performance Agency, die die Aktion "Between Points" – benannt nach einer künstlerischen Reise von Geoffrey Hendricks – kuratiert hat.
Wir steigen ein. Im Unterdeck sitzt der alte Berliner Jazzer und Krautrocker Günter Schickert und bläst in ein komisches Ding hinein, die E-Gitarre steht neben ihm: In den nächsten zwei Stunden wird er mal in psychedelischen Gitarrengewittern abgehen, mal suggestiv wummern, aber immer für uns da sein und uns zuverlässig vor den üblichen Reederei-Touriboot-Ansagen schützen.
Auf dem Oberdeck mümmeln wir uns in Decken ein, eine Stimme beginnt, einen Text von Geoffrey Hendricks zu erzählen: Es ist Ed "The Voice" Atkins, der so angenehm zu sprechen versteht, dass man wirklich irgendwann den Smalltalk sein lässt. Wir tuckern los, biegen ostwärts ins Hafengelände ein, eine Frau, die auf einer Brücke steht und das Boot betrachtet, fällt unvermittelt um. Kunst! Scheinwerfer tasten das Ufer ab, treffen auf Kräne und imposante Industriebauten, bis sie vor dem Behala-Gebäude eine Tänzerin erwischen (eine Arbeit von Stephanie Comilang).
Je dunkler es wird, desto filmischer wird das Gefühl. Man gleitet wie in einer endlosen Kamerafahrt durch die Stadt, gleichermaßen fasziniert von ihren industriellen Eingeweiden wie von den Aktionen, die die Ufer sparsam bespielen: ein Mann mit langem Glitzerhaar auf einer Schaukel (Tarren Johnson), eine Gruppe von Leuten beim romantischen Candle-Light-Dinner im Zelt, beschallt von einem Ariensänger im Ruderboot. Kurzzeitig übernimmt eine Frau das Mikro und verwandelt Madonna-Songs in tastenden introspektiven Mädchengesang, das ist Juliette Blightman. Im Dunkeln sehen die Rohbauten der Investorenarchitektur am Hamburger Bahnhof aus wie postapokalyptische Ruinen, daneben wummern die Bässe eines Mini-Raves (eher keine Kunst), der Hauptbahnhof wirkt vom Wasser ausüberraschend imposant.
Jetzt sind wir wieder an der vertrauten Berliner Repräsentations-Oberflächen angekommen, dem Hauptstadt-Themenpark, wie er sich den Touri-Booten darbietet und der mit diesem Soundtrack wunderbar surreal wirkt. Am Kanzleramt haben wir plötzlich einen Haufen Zuschauer: Die Touristen warten auf die abendliche Bundestags-Lightshow, Günter Schickert verkürzt ihnen mit einem besonders expressiven Post-Pink-Floyd-Solo die Zeit. Irgendwann sind auch die Waschbären wieder da (im Kostüm: Petrit Halilaj und Alvaro Urbano) und fischen sich etwas aus einem Abfalleimer. Die Flaschensammler kommen später.
Die Performance-Bootsfahrt "Between Points" findet noch einmal am 27. und 29. September statt. Reservierungen sind hier möglich.