Wem der australische Pavillon auf der letzten Biennale von Venedig im Gedächtnis geblieben ist, erinnert sich an das ohrenbetäubende Soundgewitter nahe an der physischen Schmerzgrenze, das Marco Fusinato zu Bildern von Krieg und Verwüstung veranstaltete. Der "Noise Artist" vermag mit der E-Gitarre das Knochenmark zu erschüttern, oder wahlweise nostalgische Assoziationen an Konzertbesuche von mit ähnlichen Effekten arbeitenden Indie-Bands wie Sonic Youth oder My Bloody Valentine hervorzurufen.
In einer harmoniesüchtigen Stadt wie Baden-Baden wirkt er erstmal wie ein fehlgeleiteter Alien, passt aber dafür perfekt ins Konzept der neuen, von Misal Adnan Yildiz kuratierten Ausstellung "Auditions for An Unwritten Opera" in der Kunsthalle. Während seine Co-Direktorin Çağla Ilk ihre Pläne für den Deutschen Pavillon zur kommenden Kunst-Biennale in Venedig erst später im Jahr kundtun will, widmet Yildiz seine Schau Mutlu Çerkez, der 2005 in Australien im Alter von 41 Jahren Suizid beging.
Der in Deutschland bisher wenig bekannte Künstler bezog sich in seinem gleichnamigen Schlüsselwerk auf die Oper, weil sie für ihn das Nebeneinander von Leben und Tod verkörperte. Einer, der in dem mit hohen Decken gesegneten Oberlichtsaal für die ungeschriebene Oper vorspricht, ist Çerkez´ Freund Fusinato. Seine Hommage während der Eröffnungsperformance hätte nicht vehementer ausfallen können: eine das Gehörorgan widerständig zersägende Lärm-Partitur, in der Stücke von Minimal-Musik-Heroen wie Maurizio Kagel oder John Cage übereinander geschichtet wurden.
Eine bewusst im Fluss gehaltene Ausstellung
Der Einblick in Çerkez´ Werk fällt dagegen eher bescheiden aus. Man bekommt Kooperationen mit Fusinato und Callum Morton, Videos, altmeisterlich wirkende Gemälde sowie grafische Arbeiten zu Gesicht, in denen Schrift, Sentenzen und Design von Plattencovern eine Rolle spielen. Die Titel verweisen häufig auf ein zukünftiges Datum, an dem die Werke neu geschaffen werden sollten. Ihre Unabgeschlossenheit sollte sie ewig am Leben halten und zugleich den Erinnerungsprozess einer vagabundierenden Flaschenpost mit neuen Inhaltschleifen befruchten.
Diese Aufgabe übernehmen jetzt in der bewusst im Fluss gehaltenen Ausstellung 18 Künstlerinnen und Künstler. So ganz lässt sich dieses Gruppen-Experiment schlummernder Interaktionen nie greifen, aber es lohnt sich, in Werke tiefer hineinzuhorchen. Darunter die Typewritings der 91-jährigen Ruth Wolf-Rehfeldt, Hanne Lippards Klanginstallationen und ein monumentaler Augapfel mit einer spiegelnden Iris von Serkan Özkaya.
Man begegnet sich angesichts dieses Beobachtungspostens selbst und erlebt zugleich eine verwirrende Dopplung der Architektur der Kunstinstitution, die im Fall der Kunsthalle eine Künstlergenerationen umfassende Geschichte vorweisen kann, in die sich Çerkez abwesend und doch lautstark einfügt. Dafür sorgt auch der kolumbianische Künstler und Musiker Pedro Gomez-Egana, der wegen eines Unfalls seine Karriere als Violinist aufgeben musste. Mit seiner selbstgebauter Soundmaschine, einem kuriosen Ungetüm, das man für ein Raumschiff aus einem versponnenen Science-Fiction-Stummfilm halten könnte, erzeugt er hypnotische Klänge, die an die Stimme seiner verstummten Mutter erinnern.
Betörende Opern im Kurgarten
Noch mehr Erinnerungsarbeit leistet die polnisch-britische Künstlerin Marysia Lewandowska. Für ihr Projekt "Recording 1989" hat sie die Stimme des US-Künstlers Donald Judd im Kunsthallen-Archiv aufgespürt und in einem begehbaren Minimal-Tonstudio zur Verfügung gestellt. Das Gespräch drehte sich damals aus Anlass Judds Baden-Badener Ausstellung um das epochale Jahr 1989. In der Rauminstallation sollen während der Ausstellungslaufzeit weitere Interviews zu Politik und Gesellschaft geführt werden.
Wem das zu wortreich ist, bekommt im Kurgarten die Gelegenheit, im öffentlichen Raum musikalisch einzugreifen. Die Open-Air-Ausstellung der Klangkünstlerin Nevin Aladağ aus Anlass der vierten Auflage der Kulturreihe Kunst Findet Stadt trumpft mit der großen Klang-Kugel "Public Resonator" auf, die in der Formgebung entfert an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett erinnert.
Auf den darauf drapierten Instrumenten, Trommeln und Tuben, Saiten und Tasten, haben Profi-Musiker des Quartetts Maha Pudma bereits betörend surreale "Opern" aufgeführt, auf die Laien schon mal mit lärmender Unkontrolliertheit antworteten – eine wunderbar großzügig ihre Geheimnisse preisgebende Skulptur, der man wünscht, sie möge nicht zu schnell allzu brutaler Experimentierfreude zum Opfer fallen.