Elke Buhr, Chefredakteurin
Hören: Sophie Hunger "Halluzinationen"
Am 28. August kommt das neue Album der Sängerin, die seit über einem Jahrzehnt und ziemlich allein die europäische Chansontradition in die Gegenwart führt, auf Englisch, Französisch, Deutsch, und wenn's besonders schön ist auch Schweizerdeutsch. Bis dahin einfach alle verfügbaren Sophie-Hunger-Playlists hören.
Lesen: Dorothy Sayers "Aufruhr in Oxford"
Ich liebe Krimis im Winter wie im Sommer, und die Urlaubszeit ist die beste Zeit für die Klassiker. Dorothy L. Sayers (1893 - 1957) ist eine der großen Autorinnen des britischen Kriminalromans. Ihr Standardermittler war der exzentrische und geniale Adelige Lord Peter Whimsey. Doch "Aufruhr in Oxford" wird aus der Perspektive von dessen Noch-Nicht-Geliebter Harriet Vane erzählt und ist mit Abstand der beste von Sayers' Romanen, da die weibliche Perspektive viel differenzierter und authentischer wirkt. Großartig auch die Beschreibungen der Charaktere in der Frauenuniversität in Oxford in den 1930er-Jahren, wo Vane ihren Fall zu lösen hat.
Hören statt Schauen: "Die sogenannte Gegenwart"
Der Urlaub bleibt netflixfrei, lieber mal einen Podcast hören. Für das "Zeit"-Feuilleton unterhalten sich jetzt Ijoma Mangold, Nina Pauer und Lars Weisbrod regelmäßig über "Die sogenannte Gegenwart", unterstützt von Siri, die mit seltsamer Betonung Dinge vorliest. Zum Beispiel Ausschnitte aus Leif Randts Roman "Allegro Pastell", der die Diskutanten unter anderem zu der Frage führt, ob "woke" eigentlich das neue narzisstisch ist. Intellektuell verrenkt man sich mit den lockeren und teilweise auch noch etwas ungelenken Gesprächen nichts, aber ist ja auch Urlaub.
Sebastian Frenzel, stellvertretender Chefredakteur
Hören: NPR "Tiny Desk Concerts"
Frustriert von mieser Akustik und üblen Sichtverhältnissen bei Live-Konzerten, kam Bob Boilen, Journalist beim US-Sendenetzwerk NPR (eine Art US-Pendant zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk) auf die Idee, seine Lieblingsmusiker lieber in sein Büro einzuladen. Sängerin Laura Gibson machte 2008 den Auftakt der "Tiny Desk"-Konzertreihe, die auf der NPR-Website und auf Youtube zu sehen ist. Seither haben Größen wie Tyler The Creator, Erykah Badu, Anderson Paak oder Alicia Keys und viele Nachwuchsmusiker an Boilens "winzigem Schreibtisch" gespielt – unplugged und mit einer Nähe und Authentizität, die man am Bildschirm nie erwartet hätte. Selbst die Coldplay-Heulsuse Chris Martin ist hier toll! (Und überhaupt möchte man dank dieser grundguten Sendung alles haten sofort und für immer einstellen.)
Lesen: Fran Ross "Oreo"
Fran Ross erzählt die Geschichte von Christine, Tochter einer Schwarzen und eines weißen Juden, die sich im Amerika der 50er-Jahre auf die Suche nach ihrem verschollenen Vater begibt. Ross' autobiografisch-gefärbter Roman ist ein grandioser Mix aus jiddischer und afroamerikanischer Kultur, dessen Spektrum, Wortwitz und Coolness die Kulturkämpfe der Gegenwart mal kleinlich, dann aber höchst dringlich erscheinen lassen. Warum musste es über 40 Jahre dauern, bis dieses bereits 1974 erschiene Werk "wiederentdeckt" wurde?
Schauen: "Breaking Bad"
Rätselhaft, wie der Netflix seinen Börsenwert durch Corona steigen konnte - mich öden die immer neuen, nie schlechten, aber auch nie wirklich originellen Serien und Filme dort zunehmend an. Ein paar wenige Klassiker schälen sich heraus: "Breaking Bad", die Serie über einen Physiklehrer, der zum Drogenkoch wird, ist so reich an grandiosen Details, dass man viele davon erst beim zweiten Anschauen der Serie entdeckt.
Jens Hinrichsen, Redakteur
Hören: Joni Mitchell "Blue"
"I am on a lonely road and / I am traveling, traveling, traveling, traveling / Looking for something, what can it be." Von den rastlosen Riffs in "All I Want" bis zum tieftraurigen "The Last Time I Saw Richard": zehn Songs voller Melancholie, die dich auf der Fahrradtour herunterkühlen. 1971 brachte Joni Mitchell ihr Album "Blue" heraus, das nach fast 50 Jahren immer noch zum Heulen schön ist.
Lesen: James M. Cain "Mildred Pierce"
Eine Frau schlägt sich durch im Kalifornien der 1920er, trotz Großer Depression und einer monströs selbstsüchtigen Tochter. James M. Cains süffiger Roman "Mildred Pierce" liest sich weg wie Bitter Lemon und ist mindestens so gut wie die Verfilmungen mit Joan Crawford und Kate Winslet.
Schauen: "Die roten Schuhe"
Eine Primaballerina, die sich in Technicolor zu Tode tanzt: Star des Films ist "Anton Walbrook als Impresario Lermontov, dessen Obsession alles um ihn herum vernichtet. Was mich reizte, war die Grausamkeit und Schönheit seiner Rolle, besonders die Szene, in der er voller Selbsthass den Spiegel zerschlägt" (Martin Scorsese). In der Filmreihe "Wohlbrück – Walbrook" erlebt man im Berliner Zeughauskino einen der schillerndsten Charakterdarsteller der Filmgeschichte – als Adolf im Weimarer Kino, als Anton im britischen Exil. Die Retro des Deutschen Historischen Museums endet am 19. September mit "The Red Shoes".
Silke Hohmann, Redakteurin
Hören: Haftbefehl "Das weiße Album"
Es ist nicht leicht zu erklären, warum alles an Haftbefehl so richtig und aufrichtig ist. Die totale Deckungsgleichheit. Autotune als Authentizität, Härte als Zartheit, Selbstironie und trotzdem keine Distanz. Voller Einsatz. Irgendwie hörte man schon gleich zum Erscheinen von "Das weiße Album" vor ein paar Wochen, dass einer nach so einer Aufnahme nicht einfach nach Hause gehen kann. Dann kam die Nachricht von einem versehntlichen selbst abgefeuerten Beinschuss, kürzlich vormittags im Frankfurter Bahnhofsviertel ging da was schief. Die Geschichte geht auf keinen Fall gut aus, aber anders lässt sich diese unfassbare Intensität nicht erreichen.
Lesen: Gary Larson "The Far Side"
Gary Larson war irgendwann in den 90er-Jahren in Rente gegangen. Er war mit seinen Cartoons "The Far Side" das tapfere Lächeln der Reagan-Ära, das verschwörerische gemeinsame Lachen einer Gesellschaft, die sich den Glauben an Intelligenz, Mitgefühl und Humor von einem narzisstischen Präsidenten nicht ruinieren lassen will. Jetzt ist er zurück. Jeden Tag gibt es neue Zeichnungen auf thefarside.com. Und wenn da Duffy Duck eine Bewerbung verfasst, und unter "Erfahrungen" unter anderem folgendes auflistet: "Kann aus großer Nähe von einer Schrotflinte weggeblasen werden, ohne zu sterben", dann macht er das für alle im harten Business Humor tätigen Figuren, Menschen, Tiere.
Schauen: "The Bad and the Beautiful – Helmut Newton"
Dieser Sommer fühlt sich so an als sei er der erste in einer neuen Zeit. Alles andere, so kommt es einem vor, war "die Zeit davor". In jener alten Zeit konnte Helmut Newton, einer der bekanntesten Fotografen überhaupt, so groß werden, und könnte es heute, mit seiner Fixierung auf idealisierte weibliche Körper, sicher nicht mehr. Dennoch ist der Film über ihn, in dem Gero von Boehm ihm mit vielen Weggefährtinnen und Zeitgenossinnen (es kommen tatsächlich nur Frauen zu Wort, Isabella Rosselini, Claudia Schiffer, Grace Jones zum Beispiel) nachspürt, ein zeitgemäßes Porträt. Nicht nur dieses Mannes, sondern dieser Ära. Gerade wurde er mit dem Prädikat "Besonders wertvoll" ausgezeichnet.
Ji-Hun Kim, Kolumnist
Hören: Iron Curtis & Johannes Albert "Moon II"
Da Raves und Festivals dieses Jahr ein explizit schwieriges Thema sind, feiert man lieber im sehr kleinen Kreis oder einfach für sich. Dafür braucht es aber immer noch frische Musik. Das aktuelle Album der beiden Berliner Produzenten Iron Curtis und Johannes Albert "Moon II" ist eine Meisterklasse in eleganter Dancefloor-Kreation, die ganz ohne Konfetti und Special Effects auskommt. Dafür aber mit zeitlosem Verve, komplexen Referenzen, großen Harmonien und unwiderstehlichen Grooves.
Lesen: E.J. Koh "The Magical Language Of Others"
Eun Ji Koh (E.J. Koh) wuchs in den USA auf, als im Alter von 15 ihre Eltern beschlossen, zurück nach Südkorea zu ziehen und sie und ihren Bruder in Kalifornien zu lassen. In ihrem Memoire "The Magical Language Of Others" erzählt Koh ihre Familiengeschichte anhand von Briefen ihrer Mutter, die sie als Jugendliche noch nicht verstand und erst später in Kontexte zu setzen vermochte. Über Generationskonflikte, Vergebung, Hürden und Chancen der Sprache, aber auch Liebe.
Schauen: "Community"
Die amerikanische Sitcom "Community" lief von 2009 bis 2015, leider nie hierzulande, vielleicht auch weil jenseits von "Big Bang Theory" und "How I met your mother" einfach nicht viel Platz im einfach gestrickten Comedy-Spektrum blieb. Seit einiger Zeit sind alle Staffeln der NBC-Produktion auf Netflix verfügbar und verregnete Sommerabende werden mit dieser Serie ziemlich unterhaltsam und kurzweilig. Erfinder Dan Harmon, der unter anderem auch hinter der legendären Cartoon-Serie "Rick and Morty" steckt, versammelt einen großartigen diversen Cast mit Donald Glover, Chevy Chase, Alison Brie, Ken Jeong, Danny Pudi und Joel McHale. "Community" ist voller feiner geekiger Referenzen und tiefer Figuren. Am Ende ist es aber auch eine Serie über wahre Freundschaft, denn die wird hier unter den Protagonisten sehr oft auf die Probe gestellt.
Alia Lübben, Autorin/Social Media
Hören: LA Priest "Gene"
Das Elektro-Indie-Pop-Album "Gene" von LA Priest. Der Track "What Moves", der als Singleauskopplung schon einen kleinen Vorgeschmack auf das Album gibt, ist als permanenter Ohrwurm mein ständiger Begleiter, zu dessen groovy Mantra ("What mo-oo-oo-ooves?") eifrig der Kopf mitwackelt. Außerdem: "Running Days" von J. Bernardt, das 2017 komplett an mir vorbei gegangen sein muss. Nach der Devise "Besser spät als nie" ist der Song "Wicked Streets" jetzt Teil meines Sommersoundtracks für 2020.
Lesen: George Packer "Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika"
"Die Abwicklung" gibt anhand einzelner Biografien mehr und weniger bekannter US-Amerikaner einen Einblick in die Entwicklungen der Vereinigten Staaten ab dem Ende der 1970er bis in das Jahr 2012. George Packer, Journalist und langjähriger Reporter für den "New Yorker", schafft es, erzählerisch und doch mit nötiger Distanz die Geschichten der realen Protagonisten zu einem zusammenhängenden Bild der USA zu zusammenzusetzen. Es geht ihm dabei weniger um die minutiöse Beschreibung großer und für den Staat einschneidender Ereignisse, als um ein Verständnis der inneren Verworrenheiten der Weltmacht und eines Wandels, der schleichend kam.
Schauen: "The Half of It"
Meine Mitbewohnerin sagt, wir hätten ein Problem. Weil wir ein bisschen zu obsessed with teen culture sind. Zugegebenermaßen bin ich sehr fasziniert von der Fernsehserie "Skam", und ganz generell wünsche ich mir manchmal, wir hätten damals so woke Filme und Serien gehabt wie die Teenager heute. Damals, das ist gerade einmal zehn Jahre her, aber damals, 2010, waren Casts von Mainstreamfilmen noch vornehmlich weiß, und wenn es mal einen nicht-heterosexuellen Charakter gab, dann war das im besten Fall der schwule beste Freund, im schlechtesten the Butt of the Joke. Darum ist es schön und erfrischend, Filme zu sehen - und ja, gerade auf Netflix - die nicht aussehen wie die Lebensrealitäten, die sich Mittvierziger für Jugendliche vorstellen, und in denen queere Identitäten nicht stereotypisiert werden. Der Coming-of-Age-Film "The Half of it" erzählt die Geschichte von Ellie Chu, die als Ghostwriterin für ihren Klassenkameraden Paul Minsky Liebesbriefe an dessen Schwarm Aster Flores schreibt - und dabei selbst eine Bindung zu dem Mädchen aufbaut. Weniger Kitsch als "To All the Boys I Loved Before", nicht so tragisch wie "Restless" und nicht ganz so zynisch wie "The End of the F***ing World". Ok, ich geb's zu, ich liebe Teen-Culture.
Anika Meier, Kolumnisten
Hören: "Die sogenannte Gegenwart"
Nichts falsch macht man mit dem neuen Feuilleton-Podcast "Die sogenannte Gegenwart" mit den "Zeit"-Redakteuren Nina Pauer, Ijoma Mangold und Lars Weisbrod. Alle reden aktuell darüber. Zumindest auf Twitter. Da erfährt man also, was die Gegenwart ist oder eben auch nicht. Der Gegenwartscheck ganz zu Beginn des Podcasts hilft beispielsweise bei der Orientierung im Alltag. Kann man Ingwershots noch trinken? Kann man "nice" noch sagen? Und wo trägt man seine Maske, wenn nicht gerade im Gesicht?
Lesen: Ilona Hartmann "Land in Sicht"
Reisen, das geht diesen Sommer nicht wirklich. Dann begleiten Sie doch einfach Jana auf ihrer Reise auf der MS Mozart, einem Kreuzfahrtschiff auf der Donau. ("Die Gäste müssen immer entweder satt, betrunken oder beides zugleich sein. (…) Keine Bingo-Abende.") Jana checkt dort ein, um endlich ihren Vater kennenzulernen, der als Kapitän auf der MS Mozart arbeitet. Milan weiß nicht, dass seine Tochter an Bord ist und von ihm wissen möchte, warum er ihre Mutter verlassen und selbst nie den Kontakt zu seiner Familie gesucht hat. "Land in Sicht" ist der Debütroman von Ilona Hartmann, die so klug, emotional und rasend komisch schreibt, wie sie twittert. Auf Twitter nimmt sie schonungslos den Alltag mit Humor auseinander, im Buch Janas Suche nach ihrer Identität.
Spielen statt Schauen: "Animal Crossing"
Sollte es Ihnen wie mir gehen und Sie haben schon alles auf Netflix (bei "Dark" bin ich allerdings ausgestiegen, meine Notizen waren zu unübersichtlich) und Amazon Prime gesehen, was man sehen möchte, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen. Gehen Sie doch auf einer kurzzeitig fast einsamen Insel im Game "Animal Crossing. New Horizons" (Nintendo) angeln und schwimmen. Wenn Ihnen die Kunst im Urlaub fehlt, könnten Sie dort sogar eine Galerie eröffnen oder sich als Künstler versuchen.
Donna Schons, Autorin/Social Media
Hören: Valentin und Nikolas Brummer "U"
Ich habe die Nächte des vergangenen Wochenendes damit verbracht, meinen guten Freund Nikolas Brummer und seinen kleinen Bruder Valentin beim Videodreh zu ihrer gemeinsamen Single "U" zu unterstützen. Vielleicht ist mein Blick ein wenig verklärt vom Schlafentzugs-High und dem Anblick der anrührenden Geschwisterliebe, aber in meinen Augen hat der sphärische Tropical-House-Track großes Sommerhitpotenzial. Weniger nepotistisch ist meine zweite Empfehlung, ein Mix der Hyperpop-Prinzessin SOPHIE, der dekonstruiert beginnt und gegen Ende in knallheißer Sunset-Boulevard-Sorglosigkeit explodierend die beste Line des Sommers liefert: "When I’m with you all I wear is sunscreen".
Lesen: Reni Eddo-Lodge "Why I’m No Longer Talking To White People About Race"
Wie viele andere versuche ich aktuell, mein Wissen über Rassismus und weiße Vorherrschaft zu erweitern. Besonders gut geholfen hat mir zum Einstieg Reni Eddo-Lodges "Why I’m No Longer Talking To White People About Race", das die Geschichte von Sklaverei und rassistische Diskriminierung und ihren Einfluss auf die heutige Gesellschaft aus europäischer Perspektive beleuchtet. Gerade lese ich Frantz Fanons autotheoretisches Buch "Black Skin, White Masks", in dem der Psychoanalytiker die soziale Konstruktion von blackness und die Auswirkungen jener Kategorie auf das Schwarze Individuum beleuchtet.
Schauen: "The Cell"
Angeschaut habe ich in den vergangenen Wochen vor allem den Himmel. Als das Leben während des Lockdowns noch gespenstisch langsam lief und die Menschen den Himmel über dem Tempelhofes Feld anstarrten, als sei er die riesige Freiluft-Leinwand, habe eine große Faszination für Wolken entwickelt, die nach wie vor ungebrochen ist. Wenn ich doch mal Filme geschaut habe, dann von meinem Mitbewohner verlesenen SciFi-Kitsch aus den 2000er-Jahren. Am tollsten war bislang der bildgewaltige Cybergoth-Horror “The Cell”, in dem Jennifer Lopez durch eine Alptraumwelt voller Body-Suspension, an Alexander McQueen erinnernder Kostüme und kunsthistorischer Zitate von Damien Hirst bis Odd Nerdrum streift.
Saskia Trebing, Online-Redakteurin
Hören: Perfume Genius "Set My Heart On Fire Immediately"
Das neueste Album von Michael Alden Hadreas kann am besten als größenwahnsinnige Kammermusik beschrieben werden, die sich in eine melancholische Disco verirrt hat. Soundtrack für einen seltsamen Sommer mit bitterer Herznote.
Lesen: Colson Whitehead "Underground Railroad"
Erschütternd gut gemachte Fluchtgeschichte der jungen Sklavin Cora, die mit einer tatsächlichen geheimen Eisenbahnlinie von einer Baumwollplantage in Georgia entkommt – und erbarmungslos gejagt wird. Der doppelt mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor Colson Whitehead geht an die Wurzel des Rassismus, die in die Gegenwart hineinwächst. Gleichzeitig benutzt er die Kraft der Fiktion als einzig mögliches Fluchtfahrzeug.
Schauen: "Oslo 31. August"
Einen stillen, vorsichtigen Film über Freiheitsdrang und Exzess und Verlorenheit zu drehen, muss man erstmal schaffen. Joachim Trier ist das 2011 mit "Oslo 31. August" gelungen, der noch bis Ende des Jahres in der Arte-Mediathek verfügbar ist. Die Handlung dreht sich um den Journalisten (und Kunstliebhaber) Erik, der nach einem Drogenentzug zurück ins Leben stolpert. Der Film, der lose auf Pierre Drieu la Rochelles Roman "Le feu follet" von 1931 basiert, ist jedoch auch ein Nachdenken über Herkunft und Entfremdung . Ein wenig "Trainspotting", aber skandinavisch unterkühlt.
Daniel Völzke, Leitung Online
Hören: Yung Lean "Starz"
Jonatan Aron Leandoer Håstad, Sprössling einer schwedischen Literaten-Dynastie, kommt aus dem gleichen Land wie Greta Thunberg und ist nur unwesentlich älter. Doch im Gegensatz zur Umweltaktivistin ist für Håstad die Sache schon gelaufen: Die Welt ist zerstört und man erträgt sie nur, wenn man sich mit Drogen aufs gleiche Kaputtheits-Level heruntertrasht. Dabei entsteht bei Yung Lean, wie der 24-Jährige sich nennt, etwas sehr Schönes: Mit seinem melodischen und melancholischen Sprechgesang und seinem Label Sad Boys hat er Cloud Rap, die heute dominante Spielart des Hip-Hop, entscheidend geprägt. Auf seinem kürzlich erschienen vierten Studio-Album "Starz" klingt er zwar genauso verzweifelt, böse und benebelt wie immer, aber zeigt auch eine so große Verletzlichkeit, dass es einen zu Tränen rührt.
Lesen: Eva Illouz "Warum Liebe endet"
Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in ihrem Bestseller "Warum Liebe weh tut" erklärt, warum unser Beziehungsstatus auf "Es ist kompliziert"-Ebene stagniert, in ihrem 2018 erschienenen Buch "Warum Liebe endet" verfolgt sie ihre Studien zum Gefühlsleben moderner Menschen weiter. Liebe endet, weil Liebe weh tut, wäre eine zu voreilige Antwort, aber die Gründe fürs Wehtun und Beenden lassen sich tatsächlich auf eine Formel reduzieren: "Capitalism kills (Love)" (wie es mal in einer Arbeit des Künstlerkollektivs Claire Fountaine hieß). Diese Einsicht hatte schon Adorno, aber Illouz aktualisiert diese Erkenntnis mit zahlreichen Beispielen aus unserer Tinder-Welt aus einer weiblichen Perspektive.
Schauen: Jeremy Brett als Sherlock Holmes
Basil Rathbone? Ganz ok. Benedict Cumberbatch? Geht so. Robert Downey jr.? Soll das ein Witz sein!? Nein, alles falsch: Jeremy Brett ist der einzig gültige Sherlock-Holmes-Darsteller: abgemagert, wach und weggetreten. In der britischen TV-Serie "Sherlock Holmes" legt der Schauspieler von 1984 bis 1994 den Detektiv als kränklichen Nerd an, der eben noch apathisch im Sessel hockt, um im nächsten Moment blitzschnell zum Kamin zu wieseln, der Witze macht, die niemand versteht und dabei fein lächelt, weil er wieder Dinge beobachtet, die niemand sieht. Wie ätzend aber auch unterhaltsam es sich anfühlen muss, ein Genie zu sein, wird bei Jeremy Brett sichtbar. Viele Folgen der Serie, die ich zum ersten Mal im DDR-Fernsehen sah, sind heute auf Youtube archiviert. Begleitend empfiehlt sich der "Jeremy Brett Sherlock Holmes Podcast", in dem alle Episoden ausführlich diskutiert werden.
Anne Waak, Kolumnistin
Hören: Berliner Rundfunk 91,4
Ich schreibe gerade ein Buch und höre daher nicht viel Musik. Ausnahme ist der Radiosender, der für die gute Laune in meiner Küche und im Auto läuft: Berliner Rundfunk 91,4 mit den Hits, Hits, Hits der 70er, 80er und 90er. Ansonsten kann ich nur immer wieder den Podcast "Where Should We Begin" der begnadeten New Yorker Paartherapeutin Esther Perel empfehlen. Auch die dritte Staffel ist mit jeder Folge ein Gewinn für das Verständnis von Beziehungsdynamiken.
Lesen: Ben Marcus "The Flame Alphabet"
Als das losging mit Corona, habe ich Ben Marcus’ 2012 erschienen Roman "The Flame Alphabet" wieder rausgeholt. Darin bricht eine rätselhafte Krankheit aus, die ausschließlich Erwachsene betrifft, Kinder bleiben verschont, ja, sie scheinen sogar die Träger der Sache zu sein, die unter anderem die Sprache betrifft. An einer Stelle heißt es: "It was a well-crafted public solitude. We were all artfully alone out there, a condition we had better get used to".
Schauen: "I may destroy you"
Derzeit schaue ich fast gar nichts. Aber sobald ich wieder über mehr Zeit verfüge, werde ich "I May Destroy You" kucken, die Serie der britischen Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Michaela Coel über sexuelle Gewalt. Einen spaßigeren Sommer gibt es dann wieder kommendes Jahr.