Mona Hatoum in Berlin

Unter Strom

Mona Hatoum fasst in ihren Installationen und Skulpturen heiße politische Eisen an, verliert aber nie die künstlerische Form aus dem Blick. Nun eröffnet ihre große Retrospektive an drei Berliner Orten

 

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Eine junge Frau marschierte 1985 barfuß durch London, ein Paar Doc-Martens-Stiefel mit den Schnürsenkeln an die Knöchel gebunden. Die groben Schuhe wirkten wie ein uniformierter Verfolger, der Hatoum dicht auf den Fersen war. Von "Roadworks" gibt es ein zufällig entstandenes Video – eine Ausnahme, denn von den frühen Performances der britisch-palästinensischen Künstlerin Mona Hatoum ist fast nichts übrig geblieben. "Ich konnte mir damals keine professionelle Dokumentation leisten, ich hatte ja kaum das nötige Geld für die Performances selbst", sagt sie im Interview über ihre Anfänge.

Seitdem hat Mona Hatoum eine lange und erfolgreiche Laufbahn zurückgelegt – und begibt sich nun auf die eigenen Spuren. Auf den mehrfachen Wunsch von Kuratoren hin hat sie alte Skizzen herausgesucht, auf denen ihre frühen Performances in Schrift und Bild festgehalten sind. Sie dürfen nicht fehlen, wenn in Berlin im September ihre bisher größte deutsche Retrospektive eröffnet, die sich aus drei Ausstellungen im Georg Kolbe Museum, im Kindl-Zentrum und im Neuen Berliner Kunstverein zusammensetzt.

Auch vier ganz neue Arbeiten werden im Georg Kolbe Museum ihren Anfängen gegenübergestellt. "Tectonic" (2022) ist eine Installation aus Glasplatten, denen Hatoum mit dem Sandstrahlgebläse feine Landkarten eingeprägt hat. Diese Glasplatten (der Titel lässt an die auseinanderdriftenden oder zusammenprallenden Erdplatten der Lithosphäre denken) ruhen nur auf feinen Glaskugeln, in einem prekären Gleichgewicht. Hatoum variiert damit zwei wichtige Themen ihres Schaffens: Zum einen beschäftigt sie sich fast obsessiv mit Stadtkarten oder Weltkarten, die mal aus Pappe, mal aus Samt oder aus Glas bestehen. Zum anderen ist sie eine Meisterin der subtilen Instabilität, die ihre Skulpturen oft leicht ins Kippen bringt.

Kunst, die zündelt

Auf den Landkarten kann man ihr Geburtsland Libanon entdecken sowie die Spuren der verschiedenen libanesischen Kriege. Wegen des Bürgerkriegs ab 1975 hatte die 1952 in Beirut geborene Hatoum nicht mehr aus London zurückkehren können, seitdem war England ihre Heimat. An zwei der Londoner Kunsthochschulen hat sie bis 1981 studiert und später an zwei anderen gelehrt, sie war als waschechte Britin für den Turner Prize nominiert und hat einige andere Preise gewonnen. Als Libanesin hat sich die Tochter palästinensischer Geflüchteter nie identifiziert.

Was für Hatoum an Spannungen in den politischen Konflikten unserer Welt steckt, vermittelt sie den Betrachtern immer auf eine indirekte und sinnliche Weise. Höchstens die "Spannung" wird bei ihr explizit, wenn Hatoum wieder mal mit elektrischem Strom zündelt. Bei der Installation "Home" (1999) müssen die Besucher sogar hinter einer Absperrung bleiben, und man hört Funkenschlag aus Lautsprechern. Bei neueren Arbeiten fließt hingegen nur Schwachstrom durch die Glühbirnen und Drähte. Wie man einen drosselnden Transistor in einem Stromkreis verbaut – auch das war eine der Lehren aus Hatoums Karriere.

"Ich liebe es, über Materialien und geometrische Formen zu kommunizieren", sagt sie. "Erst kommt das physische Erleben, danach springt der Intellekt darauf an." Ganz in diesem Sinne hat sie für die außergewöhnlich hohe Decke, über die das Kindl-Zentrum als ehemalige Brauerei verfügt, eine neue Skulptur realisiert, die achteinhalb Meter hoch ist und eine gitterähnliche, minimalistische Oberfläche hat. Einen Turm, der Endgültigkeit vermeiden will, als wäre er immer im Auf- oder Abbau. Die neue Skulptur war eine lang gehegte, endlich umgesetzte Idee von Mona Hatoum, genauso übrigens die Dreifach-Ausstellung als Ganzes: Schon 2019 wurde gemeinsam mit dem Neuen Berliner Kunstverein der Plan dazu gefasst, später kamen die anderen zwei Häuser als Partner dazu. An jedem ihrer drei Berliner Ausstellungsorte habe sie sich ganz auf die Architektur eingelassen, sagt Hatoum. In drei Phasen ließe sich eine Karriere ohnehin nicht einteilen, die von so vielen wiederkehrenden Motiven durchzogen ist.

 

>>> Mona Hatoum tackles hot topics in her installations and sculptures. Her major retrospective includes three Berlin locations

In 1985, a young woman marched barefoot through London with a pair of Doc Marten boots tied to her ankles by the laces. The clunky shoes seemed to signify the presence of a uniformed pursuer hot on her heels. By chance, a video of "Roadworks" exists—an exception as there are hardly any records of performances by the British-Palestinian artist Mona Hatoum. In an interview on her early days, she commented, "Back then I couldn’t afford professional documentation. I hardly had enough money for the actual performances."

Since then, Hatoum has established a long and successful career—and is now tracing her footsteps. Responding to curator requests, she has unearthed old sketches and notes in which she recorded her early performances. These are crucial, given that her largest German retrospective to date debuts this September in Berlin, with exhibitions at Georg Kolbe Museum, Kindl-Zentrum, and Neuer Berliner Kunstverein.

She will also show four new works alongside her early pieces at Georg Kolbe Museum. "Tectonic" (2022) is an installation made from glass sheets, engraved by Hatoum using a sandblasting blower. The title gives the impression of plates of the lithosphere drifting together or colliding, with glass plates resting solely on glass globes in a precarious equilibrium. Hatoum thus moves between two important themes in her work. On the one hand she works almost obsessively with city and world maps, made from carboard, velvet, or glass. On the other hand, she is a master of a subtle instability that often unsettles her sculptures. Hatoum was born in 1952. Due to the civil war that began in 1975, she was unable to return from London and England became her home. Until 1981, she studied at two art schools in London, and later taught at two others. She was nominated as a British artist for the Turner Prize and was given a number of other awards. As the daughter of two Palestinian refugees, she never identified as Lebanese.

Conflicts shown in an indirect and sensual way

Hatoum conveys to viewers the tensions she sees in the political conflicts of our world in an indirect and sensual way. This tension only becomes explicit when Hatoum plays once again with electric currents. In her "Home" installation (1999), viewers had to remain behind a barrier and could hear sparks from the loudspeakers. In more recent works, only a low-wattage current flows through the lightbulbs and wires. How to install a slow transistor in a circuit was one of the lessons learned throughout Hatoum’s career.

"I love communicating using materials and geometric forms," she says. "The physical experience comes first, then the intellect is prompted." In keeping with this sentiment, she has created a new 8.5-meter-high sculpture for the astonishingly high ceilings of the Kindl-Zentrum, a former brewery. Its surface is lattice-like and minimalist. It is a tower that seeks to avoid finitude, as if it were in constant assembly or disassembly. The new sculpture was a long-planned idea which Hatoum has now realized, as were her plans for the triple exhibition as a whole. Back in 2019, she began planning, together with Neuer Berliner Kunstverein, and later the two other exhibition spaces joined as partners. She responded thoroughly to the architecture in each of the three Berlin exhibition spaces, Hatoum explains. Besides, it would be impossible to separate her career into three phases, when it has been characterized by so many repeated motifs.