Maler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis

Die ewigen Fragen zwischen Meer und Kosmos

Der Maler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis wird in Litauen als Nationalheld verehrt. Zum 150. Geburtstag sollte man sein poetisches Werk unbedingt in einer Ausstellung in Kaunas entdecken

Meterhoch türmt sich das textile Relief zu einer bewegten Meeresoberfläche vor uns auf, die von hunderten Nylonschnüren gehalten den Blick gen Himmel lenkt. Nach dem biblischen Psalm "De Profundis" benannt, stimmt die Installation des argentinisch-deutschen Künstlers Miguel Rothschild perfekt in die grandiose Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis ein, die derzeit im litauischen Kaunas zu sehen ist. 

"From Amber to the Stars" reicht der künstlerische Kosmos des bedeutendsten Malers und Komponisten Litauens, der sich von den Tiefen des Meeres zu den Weiten des Weltalls erstreckt. Auf der Suche nach einer Synthese zwischen Musik und Kunst hat Čiurlionis in nur wenigen Jahren seines kurzen Lebens (1875-1911) einen einzigartigen Stil entwickelt, der Neoromantik, Symbolismus und Abstraktion verbindet. 

Nach dem Musikstudium in Warschau und Leipzig studierte er Kunst in Warschau, bevor er 1907 nach Vilnius zurückkehrte, um sich der litauischen Nationalbewegung anzuschließen. Vier rastlose Jahre mit Zwischenaufenthalt in St. Petersburg und Reisen durch Europa blieben ihm bis zu seinem frühen Tod. Genug Zeit jedoch, um ein Werk von 200 Bildern, meist Tempera oder Pastell auf Papier, 40 Fotos, 50 Grafiken und 600 Skizzen zu hinterlassen, das von seinen Interessen für Astronomie, Theologie, Philosophie und Theosophie ebenso durchdrungen ist wie von der Volkskunst, den Mythen, Märchen und Legenden seiner Heimat.

Zwischen Meer und Kosmos als den beiden Schlüsselthemen des Künstlers bildet die Navigation das Bindeglied in der von Kathleen Soriano aus London mit zwei litauischen Kolleginnen kuratierten Ausstellung. Mit 60 Hauptwerken kann man nicht nur Čiurlionis im ebenbürtigen Dialog mit berühmten Zeitgenossen wie William Blake, Léon Spilliaert oder August Strindberg entdecken, sondern auch weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler aus Litauen, Japan und vielen anderen Ländern. Darunter sind auch die aus Deutschland stammende Clara Arnheim mit ihren hinreißenden Aquarellen, Andreas Dirks, Wenzel Hablik und Patrick von Kalckreuth.

Höchste Zeit, ihn in den Kanon aufzunehmen

Sie alle kreisen um dieselben ewigen Fragen nach Ursprung und Sinn des Universums, die Kunst und Wissenschaft seit jeher verbinden und einen Resonanzraum für zeitgenössische Schaffende wie Vija Celmins, Anselm Kiefer, Jiří Kolář, Mariele Neudecker, Semiconductor oder Keith Tyson eröffnen. 

Der Rundgang kulminiert in einer Apsis mit Čiurlionis‘ 13-teiligem Zyklus über die Erschaffung der Welt. Er bildet den spirituellen Höhepunkt dieser fantastischen Ausstellung, für die man sich eine Tournee durch ganz Europa wünschte. Umso empfehlenswerter ist die Reise in das nach Čiurlionis benannte Nationalmuseum in Kaunas, das neben der Ausstellung fast sein gesamtes Oeuvre beherbergt.

In Litauen längst als Nationalheld verehrt – wie Edvard Munch in Norwegen oder Hilma af Klint in Schweden – lässt Čiurlionis‘ internationale Anerkennung trotz Ausstellungen in Köln 1998, Paris 2000, Warschau 2001 und London 2022 noch auf sich warten. Höchste Zeit, diesen Ausnahmekünstler im Westen zu entdecken und in den Kanon der (anderen) frühen Moderne aufzunehmen.