Der Frühling kommt, alles wird grün und man kann sich vorstellen, wie es wäre, nochmal neu anzufangen. Wie meine beiden Gäste, Mikala Holme Samsøe und Amandus Samsøe Sattler. Sie sind verheiratet, und er hat ihren Namen dem seine vorangestellt, das spricht, was die Symbolik von Neuanfängen anbelangt, ja schon für sich. Gerade ziehen die beiden von München nach Berlin, um hier auch beruflich neu anzufangen.
Amandus Samsøe Sattler ist einer der drei Gründer des bekannten Architekturbüros Allmann Sattler Wappner, das seit 35 Jahren existiert und inzwischen rund 150 Mitarbeiter:innen beschäftigt. Eine große Maschine also, die entsprechend große Projekte umsetzt. Klassischer Erfolg. Das lässt er nun also hinter sich.
Auch Mikala Holme Samsøe ist Architektin, sie hat lange das Deutsche Büro von Henning Larsen Architects mitgeleitet und ist inzwischen Professorin an der Hochschule Augsburg. Gemeinsam eröffnen sie ein neues Büro, es heißt Studio Ensømble. Es soll keine große Maschine werden, sondern sich in der Kooperation mit anderen entfalten, also, wie der Neologismus "Ensømble" schon sagt, in skandinavischer Kooperationsfreue mit anderen zusammenklingen. Doch der Neuanfang ist nicht nur ein organisatorischer, sondern auch ein inhaltlicher.
Unser Gespräch passt zu einem Buch, das ich gerade lese; "Anfänge" von dem 2020 verstorbenen Kulturanthropologen David Graeber (berühmt geworden mit seinem Buch über Schulden) und dem Archäologen David Wengrow. Gemeinsam hinterfragen sie die dominante Erzählung von der Entstehung unserer Zivilisation von der einfach Jäger- und Sammlergruppen zu den komplexen – und deshalb hierarchischen – Gesellschaften der Gegenwart. Unsere Frühgeschichte, so eine ihrer Kernaussagen, sei nicht von linearem Fortschreiten, sondern von fortwährenden Neuanfängen geprägt. Immer wieder hätten sich Gesellschaften bewusst dafür entschieden, etwas anders zu machen, alternative Formen von Gesellschaftsorganisation zu erproben – also aus Unzufriedenheit mit dem gegebenen Zustand einen Neuanfang gewagt.
So auch meine beiden Gäste. Mit ihrem neuen Büro wollen sie bekannten Pfade verlassen. Im Mittelpunkt der Arbeit ihres neuen Büros soll die Wiederverwendung gebrauchter Materialien stehen. Dazu passt, dass Amandus Samsøe Sattler seit 2020 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) ist – auch wenn die sich vom Phantasma Wachstums noch nicht komplett verabschiedet hat. Wie das gehen könnte, veranschaulichen Amandus Samsøe Sattler und Mikala Holme Samsøe bei unserem Essen in der Wohnung, die sie sich gerade hergerichtet haben.
Im Gegensatz zu der unter Architekt:innen häufig üblichen Vorgehensweisen haben sie darin fast alles so belassen, wie sie es vorfanden, anderes haben sie auf den Ursprung zurückgebaut. Praktisch heißt das: keine neue Heizung, sondern alte Radiatoren. Kein neues Bad, sondern nur einen neuen Duschvorhang. Auch die eingebaute Küche ist nicht neu, sondern gebraucht, sie haben sie in Dänemark gefunden.
Wir sprechen über den Luxus und den Komfort, an den wir uns so sehr gewohnt haben, dass er uns kaum noch auffällt; denken über freiwilligen Verzicht nach, den Amandus Samsøe Sattler lieber als "improvisierte Schönheit und glückliche Genügsamkeit" bezeichnen möchte, weil er positive Narrative erzeugen will und räsonieren, dass Architekt:innen sich auf die Suche nach einer neuen Normalität begeben müssen, in der nicht alles zur ästhetischen Perfektion getrieben wird. Aber auch Studio Ensømble muss sich dazu, wie Amandus Samsøe Sattler betont, "auch immer wieder neu einnorden." Denn die Macht der Gewohnheit ist groß, das erlebe ich auch immer wieder bei mir selbst. Aber Veränderung, ein Neuanfang scheint unabdingbar.
Überzeugt und überzeugend beschreiben die beiden die Architektur, wie wir sie kennen, als einen "systemischen Fehler" und einen "Prozess der Zerstörung": ressourcenverbrauchend, energieintensiv, verschwenderisch. Die beiden versuchen deshalb nun, die "ästhetische Dimension der Post-Wachstumsökonomie" zu erkunden. Dabei geht es natürlich um einen größeren Maßstab als den der eigenen Wohnung. Gerade hat Studio Ensømble gemeinsam mit dem dänischen Architekten Anders Lendager den Wettbewerb für den Umbau des zum Karstadt am Hermannplatz in Berlin gehörenden Parkhauses gewonnen. Lendager ist einer der Vorreiter des Re-Use in der Architektur, und das zeigt sich auch beim Entwurf der zukünftigen Fassade des umzubauenden Parkhauses. Für sie will er Überbleibsel des alten Karstadt verwenden: Betonbalken, gebrauchte Fenstern und die Stufen der nicht mehr benötigten Rolltreppen. Ein Katalog mit allen wiederverwertbaren Materialein aus den bestehenden Gebäuden wurde übrigens allen Wettbewerbsteilnehmer:innen vom Eigentümer zur Verfügung gestellt – auch die Investoren denken inzwischen um.
Was ich an dieser Art von Neuanfängen mag: Sie haben immer etwas mit dem zu tun, was vorher war. Der Neuanfang, den meine beiden Gäste unternehmen, ist einer, der auf dem aufbaut, was sie vorher gemacht haben, sie bleiben ja beide Architekt:innen. Und der Neuanfang, den sie in der Architektur anstreben, baut auf den Gebäuden und den Baumaterialien auf, die es bereits gibt. Wie die Stufen der Rolltreppe, die jetzt zur Fassade werden. Das ist kein Neuanfang, der die Vergangenheit leugnet, sondern einer, der sie in etwas Neues transformiert.
Das Thema "Neuanfang" passt leider nicht nur zum architektonischen Aufbruch, den Studio Ensømble anstrebt und zum Frühling, der gerade Einzug hält, sondern auch zum vorherrschenden Thema der Gegenwart: dem Krieg in der Ukraine. Immer, wenn ich die Bilder der zerstörten Städte sehe, denke ich mir: Wie wird man das wohl wieder neu aufbauen? Welche Form von Neuanfang, der von der Vergangenheit in die Zukunft führt, wird dort gestaltet werden (können)?
Als Gastgeschenk haben die beiden mir einige Knollen Topinambur aus ihrem Garten mitgebracht. Bis zu fünf Meter hoch sollen die Pflanzen werden, berichtet Mikala Holme Samsøe, mit großen gelben Blüten wie Sonnenblumen. Einige Knollen habe ich bereits verkocht, die anderen eingepflanzt. So wird dieser Neuanfang zumindest in meinem Garten wilde Blüten treiben.