Herr Julien, Ihre Karriere begann inmitten der Rassenunruhen der 80er-Jahre in Großbritannien. Wie war das damals für Sie als schwarzer Künstler?
1979 begann ich mein Studium am Central Saint Martins College of Arts and Design in London, im gleichen Jahr wurde Margaret Thatcher Premierministerin, damit begann eine Zeit extremer Umstrukturierungen und sozialer Ungerechtigkeit. Die Arbeiten vieler schwarzer Künstler entstanden als Reaktion auf die Aufstände. Aber auch andere Gruppen rebellierten, Homosexuelle, Künstler. Meine erste wichtige Arbeit war „Who Killed Colin Roach?“ von 1983, ein Dokumentarfilm über den Fall eines jungen schwarzen Briten, der in Polizeigewahrsam mysteriös ums Leben kam. Gerade arbeite ich an einer Publikation mit dem Titel „Riot“ für das MoMA, wo ich im Herbst eine Ausstellung habe. Darin beschreibe ich diese Zeit.
Zusammen mit anderen Künstlern gründeten Sie damals das unabhängige „Sankofa Film and Video“-Kollektiv.
Mit Sankofa habe ich Arbeiten wie „Territories“, „The Passion of Remembrance“ oder „Young Soul Rebels“ gemacht, alle waren von den Unruhen geprägt. In London ging zu dieser Zeit der Fernsehsender Chanel 4 auf Sendung, der diese Filme finanzierte. Es ging darum, gesellschaftliche Diversität zu präsentieren. Unterstützt wurden zwar explizit Filmemacher, aber die Bedingungen entsprachen eher denen der bildenden Kunst. Wir waren unabhängig, hatten Zeit und konnten unsere Themen frei bearbeiten.
Die künstlerische Sprache, die Sie dann entwickelt haben, speist sich aus Film und Kunst.
Filmemacher wie Chris Marker, Jean-Luc Godard und Pier Paolo Pasolini waren Vorbilder für mich und andere Sankofa-Künstler. Außerdem kamen wir ja von der Kunsthochschule, waren also auch mit den Werken bildender Künstler vertraut. Künstlerische Praktiken wollten wir mit für diese Zeit wichtigen Theorien verbinden. Wir lasen Julia Kristeva, Roland Barthes und Jaques Derrida. Derrida war natürlich außergewöhnlich hilfreich – uns ging es darum, gängige Filmsprachen zu dekonstruieren und neue Lesarten zu ermöglichen.
Zu „True North“, einer Arbeit von 2004, die jetzt in der Sammlung Goetz als Teil der 4-Kanal-Installation „Fantôme Créole“ zu sehen ist, hat Sie Matthew Henson inspiriert, ein Afroamerikaner, der 1909 in einer Arktisexpedition als einer der ersten Menschen den Nordpol erreicht haben soll. Suchen Sie für Ihre Arbeiten nach solchen Geschichten?
Witzigerweise habe ich Henson im Great Blacks in Wax Museum in Baltimore entdeckt, in dem Wachsfiguren schwarzer Persönlichkeiten ausgestellt sind. Das ist einer der Drehorte meines Films „Baltimore“, der auch in der Retrospektive läuft. Aber um ganz ehrlich zu sein, war die Motivation ausnahmsweise ganz banal: Ich wollte schon immer eine Arbeit mit Schnee und Eis machen, brauchte aber ein Alibi. Meine Werke gehen ja über eine rein visuelle Ästhetik hinaus, haben einen erzählerischen und politischen Anspruch. Die Geschichte hat sehr gut gepasst, kaum einer kennt sie.
In einem Gespräch mit Festival-Direktor Hans-Peter Schwerfel haben Sie gesagt, Sie nerve die in der Gegenwartskunst vorherrschende neue „Aesthetical Correctness“. Wie meinen Sie das?
Wenn Kunst politisch ist, also eine politische Position einnimmt, ist das in der Regel mit einer bestimmten visuellen Sprache verbunden, die meist sehr puristisch ist. Was unterhält, ist keine Kunst mehr, meinen viele. Ich mag aber die Vorstellung, dass Genuss und Politik zusammen funktionieren.
Sie sind ausgebildeter Maler, die Ästhetik Ihrer Arbeiten wird gerne mit der von Gemälden verglichen. Bei der Installation „Western Union: Small Boats“ von 2007, die gerade im Münchner Museum Brandhorst zu sehen ist, fungieren zwei der fünf großen Screens sogar als eine Art Rahmen mit bewegten Bildern.
Viele Kritiker und Kunsthistoriker stellen formal-ästhetische Fragen in den Vordergrund. Ich denke aber, dass vor allem persönliche Erfahrung Ästhetik beeinflusst. Es geht darum, wer die Kamera hält, und nicht wie er sie hält. Bei „Western Union: Small Boats“ hat mich zum Beispiel auch die Geschichte meiner Eltern inspiriert, die als schwarze Einwanderer aus der Karibik nach Großbritannien kamen. Ich kam natürlich nicht in einem Boot, ich wurde in Europa geboren. Trotzdem unterscheidet sich meine Erfahrung von der anderer Künstler.
In „Western Union: Small Boats“ geht es um afrikanische Flüchtlinge, die vor der Küste Europas ertrinken oder auf Sizilien oder Lampedusa stranden. Die Bildsprache ist aber keineswegs drastisch, eher sehr poetisch.
Die Frage ist doch, warum die Poesie eigentlich aus politischen Diskursen und aus der politischen Kunst verschwunden ist. Bestimmte Themen müssen schroff und direkt gefilmt werden. Nur dann gilt eine Arbeit auch als politisches Statement.
Das ist die „Aesthetical Correctness“, die Sie so stört ...
Ganz genau. Wie viele Arbeiten gibt es denn, in denen eine schwarze Person in einem kritischen Kontext schön und poetisch dargestellt wird, etwa perfekt ausgeleuchtet ist? Wir haben es mit einer ästhetischen Vereinheitlichung zu tun. Ästhetische Unterschiede entsprechen aber kulturellen Unterschieden. Wenn Billy Holiday in „Strange Fruit“ über Lynchmorde singt, ist das tragisch, aber gleichzeitig sehr poetisch.
Gerade arbeiten Sie an einem neuen Projekt. Worum geht es?
In „Playtime: Capital“ fließen mehrere Geschichten zusammen, sie spielen in Reykjavík, Dubai, London und New York. Die Figuren, unter anderem ein Hedgefonds-Manager und ein Kunstberater, sind in irgendeiner Weise von Kapital beeinflusst worden, etwa beim Bankencrash 2008 in Island. Ich untersuche in der Arbeit, wie sich Kapital auf das Subjekt auswirkt.
Festival Kino der Kunst, München, bis 28. April
Die Retrospektive wird am 26. April um 20 Uhr und am 27. April um 15 Uhr im HFF Kino München gezeigt
Videokünstler Isaac Julien im Interview