Natürlich ist sie auch da, die Felltasse, die seit vielen Jahrzehnten pars pro toto für das Werk von Meret Oppenheim (1913-1985) einsteht. Gleich im ersten Raum ihrer Werkschau am Museum of Modern Art (MoMA) in New York ist sie zu finden, aber in einer kleinen Glasvitrine und nicht zentral platziert. Das berühmte haarige Geschirrstück reiht sich bescheiden in einen Überblick von Oppenheims frühen Schaffensjahren unter dem Titel "Surrealistin avant la lettre" ein. Bis man im dritten der sieben Räume der Ausstellung angekommen ist, hat man die Tasse beinahe wieder vergessen.
Sie verblasst inmitten des Eindrucks der Vielseitigkeit von Oppenheims Werk und Wirken, das ein halbes Jahrhundert umfasst sowie eine Stilvielfalt, die sich jeglichem Label entzieht. Nicht nur der Begriff "Surrealistin", unter dem Oppenheim gemeinhin geführt wird, wirkt nach dem Betrachten der 172 Stücke zu eng, auch der Rahmen der Moderne, in den sie üblicherweise gestellt wird, vermag sie nicht zu fassen.
Natürlich ist es das ausdrückliche Ziel der monumentalen Schau, dem US-Publikum den Blick auf die Komplexität einer Künstlerin zu öffnen, die vollkommen zu Unrecht in der populären Rezeption oft auf ein einziges Werk reduziert wird. Selbst Kuratorin Anne Umland gibt zu, dass sie lange nicht viel von Oppenheim kannte, das über die Tasse hinausging, die das MoMA bereits 1936 für seine bahnbrechende Ausstellung zu Dada und Surrealismus erwarb. Erst als ihre Kollegin Nina Zimmer vom Kunstmuseum Bern sie 2018 einlud, um gemeinsam dessen umfangreiche Bestände zu durchforsten, begann sie zu begreifen, dass Einfluss und Bedeutung der Künstlerin weit über ihren sehr frühen kleinen Beitrag zur surrealistischen Bewegung hinausgeht.
Fruchtbare Kollaboration zwischen Bern, New York und Houston
So begann eine fruchtbare Kollaboration zwischen dem MoMA, dem Schweizer Kunstmuseum und der Menil-Sammlung in Houston, die ebenfalls bedeutende Oppenheim-Werke besitzt. Das Ergebnis, das zuerst in Bern und in Houston zu sehen war, ist nun an der 53rd Street in Manhattan angekommen und darf getrost als eine der wichtigsten Ausstellungen des New Yorker Herbstes gelten.
Die Schau passt trefflich in die Anstrengungen des MoMA, seine eigenen verkarsteten, vorwiegend männlichen Narrative der Moderne aufzubrechen und zu hinterfragen. Nachdem das Museum erst im vergangenen Jahr Sophie Taeuber-Arp in das Zentrum der 20er-Jahre-Avantgarde eingeschrieben hatte, folgt nun Oppenheim, die sich Zeit ihres Lebens vergeblich gegen ihre Marginalisierung in der Geschichtsschreibung der modernen Kunst aufgelehnt hatte.
Teil dieser Rebellion war die Planung einer eigenen Retrospektive, die Meret Oppenheim zwei Jahre vor ihrem Tod 1985 selbst vorgenommen hatte. In zwölf minutiösen Zeichnungen legte Oppenheim fest, in welche Phasen und Epochen sie ihr Werk eingeteilt sehen wollte und welche ihre Arbeiten sie jeweils für exemplarisch für ihr Denken und Schaffen sah.
Makabre Sensibilität
Die Zeichnungen selbst stellen einen zentralen Teil der New Yorker Ausstellung dar, die sich grob – aber nicht sklavisch – an Oppenheims Vorgaben hält. Damit erhebt die New Yorker Schau ihren Akt der Retrospektion, ihren Versuch, ihre eigene Hinterlassenschaft zu formen, selbst in den Rang einer Kunst.
Meret Oppenheim hatte ihre Werkschau, die 1984 an der Kunsthalle Bern realisiert wurde, grob chronologisch angelegt. Sie begann mit "Kindheit, 1931-34" und "Zeichnungen, 1934-48". Ihre Pariser Zeit, in der sie eng mit dem surrealistischen Zirkel verwoben war und die ihre Rezeption bestimmte, erfuhr keine gesonderte Würdigung. Stattdessen war, wie nun auch im MoMA, das jugendliche Talent sowie die träumerische und makabre Sensibilität der sehr jungen Oppenheim zu sehen. Dazu gehören etwa ihr "Notizbuch einer Schülerin" mit proto-dadaistischen Skizzen oder dem sehr finsteren "Selbstmörder-Institut".
Die Ausstellungs-Vorlage der Künstlerin springt dann weiter zu ihren sogenannten Krisen-Jahren, der Zeit grob zwischen 1937 und 1955, in der sie nach eigenem Empfinden in einer tiefen Schaffenskrise steckte. Die Euphorie und die Aufbruchstimmung der Pariser Zeit waren verflogen, der Nationalsozialismus und der Krieg überzogen Europa. Oppenheim musste zurück in die Schweiz, wo sie sich im vergleichsweise provinziellen Bern einrichtete.
Vollkommen befreit
Doch obwohl Oppenheim diese lange Epoche als krisenhaft empfand, ging ihre künstlerische Produktion weiter. Ein finsterer, melancholischer Ton in ihren Werken lässt sich jedoch nicht verhehlen, wie in den Gemälden "Erl-Königin", der traumartigen Darstellung der heiligen Genevieve, der Schutzpatronin von Paris, mit der Oppenheim sich identifizierte, oder ihrem grüblerischen Selbstbildnis von 1937.
Dann folgt das, was sie selbst als ihre "intensivste kreative Phase" bezeichnet, die Zeit von 1954 bis zu ihrem Tod. Am MoMA wird diese langen Jahre künstlerischer Befreiung gleich in fünf Aspekte aufgegliedert: Ihre Verbindung mit der neo-realistischen Schweizer Avantgarde, ihre Rückkehr zu surrealistischen Themen, ihre Beschäftigung mit Carl Gustav Jung und mit der psycho-symbolischen Konstruktion von Geschlecht und Gender, sowie ein Raum mit den Gemälden, Zeichnungen, Objekten und Collagen ihres letzten Lebensjahrzehnts.
Die Räume richten den Blick auf das Schaffen einer Künstlerin, die vollkommen befreit scheint. In Fernsehinterviews, die am Rande der Ausstellung gezeigt werden, sagt sie immer wieder, sie mache das, was sie selbst gerade machen möchte, und nichts sonst. Etiketten und Zeitströmungen sind ihr vollkommen gleichgültig.
Postmoderne Sensibilität
So produziert Oppenheim Relief-Gemälde, während in New York der Abstrakte Expressionismus tobt. Sie kehrt in den 1970er-Jahren zu abstrakten Ölgemälden mit geometrischen Formen und zu Objekt-Collagen aus gefundenen Materialien zurück. Und sie fertigt zum Ende ihres Lebens zarte Hommagen an große Frauenfiguren wie Bettina Brentano oder Karoline von Günderode.
Nina Zimmer möchte in dieser späten Phase im Werk der Künstlerin eine postmoderne Sensibilität ausmachen. Doch auch das wirkt nur wie ein weiterer Versuch, etwas zu klassifizieren, was sich nicht klassifizieren lässt. Fest steht nach der Retrospektive am MoMA jedoch, dass Meret Oppenheim so viel mehr zur Kunst des 20. Jahrhunderts beigetragen hat, als bloß eine mit Fell überzogene Tasse.