Stacheldraht ist eine Linie, die sich bewaffnet hat. Tritt man nahe genug an die filigran gezwirbelten Metallstränge mit ihren kurzen prägnanten Spitzen heran, kann man dieses Design durchaus als formal vollendet würdigen. Doch es ist gleichzeitig unmöglich zu vergessen, wozu diese Linien benutzt werden: Sie können Menschen und Tiere beschützen, sie können aber auch einsperren, abschrecken und verletzen.
Der afroamerikanische Künstler Melvin Edwards, geboren 1937, benutzt beide Ebenen dieses Materials. Im Fridericianum in Kassel hat er aus Stacheldraht geometrische Installationen gespannt, die an die Faden-Arbeiten eines Fred Sandback erinnern. Doch anders als dessen strenge Zeichnungen im Raum kann sich Melvin Edwards’ Kunst nicht auf rein formale Aspekte zurückziehen. Sie bedient sich der reduzierten Sprache einer überwiegend weißen Moderne, diese ist jedoch für ihn nicht ohne die Gewalterfahrungen Schwarzer Menschen denkbar.
In seinen geschweißten Skulpturen, die wie Trophäen an den Museumswänden hängen, formieren sich eiserne Ketten, Haken oder Hufeisen zu mächtigen Materialgebirgen. Aber vor dem historischen Hintergrund von Sklaverei und Lynchmorden schwingt auch immer die Frage mit, was diese Werkzeuge einem Körper antun können.
Nach prominenten Auftritten auf der Venedig-Biennale und im Haus der Kunst in München ist die Ausstellung in Kassel nun ein weiterer Schritt zur überfälligen Etablierung von Edwards in der Geschichte der Nachkriegsmoderne. Die Arbeiten nutzen die Offenheit abstrakter Formen, vergessen dabei aber niemals die Beziehung der verwendeten Objekte zur Welt. Es ist eine Moderne, die Zähne zeigt.
Dieser Text ist zuerst in Monopol 10/2024 erschienen.