Kunst für Putins Justizdepot: In seiner Werkliste finden sich Titel wie "Ausgeweidetes Tier", "Naht", "Bedrohung", "Fixierung" oder "Abtrennung". Jenseits von Russland könnte man Pjotr Pawlenski für eine Neuauflage der Wiener Aktionisten oder eine männliche Marina Abramovic halten. Dass der 33-jährige Ritter von der traurigen Gestalt mehr ist als die Summe seiner Schmerzen, beweist jetzt der Dokumentarfilm "Pawlenski – Der Mensch und die Macht". Er lässt einen klugen Kopf zum Vorschein kommen, der mit seinen Argumentationslinien jeden Regierungsvertreter aus dem Konzept bringt.
"Bedienungspersonal" für die Mächtigen wollte Pjotr Pawlenski nie werden. Schon als Student an der Kunsthochschule waren ihm all die Kommilitonen suspekt, die auf einen Job als "Ausstatter" der neuen Post-Perestrojka-Ideologie hofften. Institutionelle Kunst war für ihn eine No-Go-Area. Läuft die Kamera, sucht er nicht lange nach dem passenden Wort für Sachverhalte, die er in dem "Gefängnis des Alltags" ablehnt. Sie sprudeln mühelos aus ihm heraus, treffsicher und selbst im Prozesssaal bar jeder Verschleierungstaktik.
Pawlenski reflektiert nicht nur viel. Er scheut bekanntlich auch keinen Körpereinsatz, wenn es darum geht, die Methoden des "rigiden Systems" zu entlarven, in dem er bis zu seinem jüngsten Asyl-Antrag in Frankreich gelebt hatte. Alles was rund um seine Aktionen im öffentlichen Raum passierte, besorgten die Wächter des peinlich berührten Staatsapparats. So mussten sie schon den mit Vorliebe nackt auftretenden Quälgeist aus einem Stacheldrahtknäuel auspacken, oder erwischten ihn blutend auf der Mauer des Serbski-Instituts, eines Zentrums für Gerichtspsychiatrie, nachdem er sich in Anlehnung an Van Gogh das Ohrläppchen mit einem Fleischermesser abgeschnitten hatte.
Am Anfang stand die Inhaftierung der Aktivistinnen von Pussy Riot. Aus Protest nähte sich der bis dahin unbekannte Pawlenski 2012 den Mund zu und ließ sich im Krankenwagen zur Abwicklung des klemmenden Kunstwerks eskortieren – es war der Prototyp aller nachfolgenden Gehorsamverweigerungen. An einem 10. November, dem staatlichen Feiertag der Polizei, gelang dem Wiederholungstäter seine bisher spektakulärste Selbstverstümmelung. Wie kommentiert ein Pawlenski Putins Kehrtwende in Richtung Polizeistaat? Indem er sich auf dem Roten Platz den Hodensack festnagelt und damit nicht nur ein Präsenz-Abo in den westlichen Medien erhält. Er gewinnt sogar den Respekt eines jungen Ermittlers. Dieser weigerte sich nach offenbar beeindruckenden Debatten über den Zweck der Kunst, den Delinquenten für die Erstellung eines Gutachtens in die Psychiatrie einzuweisen. Inzwischen arbeitet er als freischaffender Anwalt.
Der realsatirische Ping-Pong aus Performance und Prozess hätte ewig so weitergehen können, wäre Pawlenski nicht auf die Idee gekommen, seinen Stachel direkt vor der Tür des Geheimdienstes FSB abzuwerfen, in seinen Augen dem Nukleus des "Staatsterrorismus". Die Adressaten waren not amused, als in Moskau plötzlich der Eingang zum traditionsreichen Lubjanka-Gebäude brannte. Diesmal sah sich die lupenreine Putin-Demokratie gezwungen durchzugreifen. Aus einem symbolischen Akt wurde ein Fall des kriminellen Vandalismus. Wie es Pawlenski in der absurden Bestrafungsmaschinerie erging, schildert die in Sachen Russland-Wahnsinn erfahrene Doku-Regisseurin Irene Langemann mit Sinn für humoristische Zwischentöne. Etwa wenn der befreundete Künstler Oleg Kulik von den Auslassungen des Gerichts zur verletzten Seele einer Brücke erzählt, die Pawlenski als Austragungsort einer Solidaritätsaktion mit der Ukraine ausgewählt hatte. Demnächst müsse man wohl auch mit dem Auftritt der FSB-Tür rechnen, mutmaßt er spitzbübisch.
Eingestreute Aufnahmen von den mitunter bereits ikonischen Aktionen wechseln sich ab mit nachinszenierten Szenen auf der Grundlage der Justizprotokolle. Hier fährt Pawlenski rhetorisch zur Hochform auf. Er spielt das Spiel aus Einschüchterung und Unterwerfung nicht mit. Stattdessen stellt er Forderungen und bringt sein Gegenüber durch die Klarheit seines Denkens aus dem Konzept. Psychiater, Anwälte, Kollegen, darunter auch die überaus dankbare Nadeschda Tolokonnikowa von Pussy Riot, und nicht zuletzt die so leidensfähige wie hartgesottene Lebensgefährtin Oksana Schalygina kommen zu Wort. Langemann verzichtet gänzlich darauf, den hohlwangigen Vegetarier und Ehe-Verächter zu einer selbstaufopfernden Heiligenfigur zu überhöhen. Vielmehr wählt sie den Weg der unaufgeregten Entblößung eines dünnhäutigen Macho-Regimes, der Bürger noch wie Untertanen behandelt und selbst auf Verzweiflungsmanöver eines vermeintlichen "Kunst-Narren" mit brachialer Autorität reagiert.
Ein Film-Statement aus einem Guss: Chapeau!