"Nimm den Arm runter! Den Arm runter!" Lilith Stangenberg schreit alle nasenlang Jonathan Meese an und ringt mit ihm. Doch Meese ist Meese und Hitlergruß muss eben sein. Am Ende des Dortmunder Theater-Spektakels rangelt gar die fast 90-jährige Brigitte Meese mit ihrem Sohn. Doch auch diese pädagogische Maßnahme prallt am 50-jährigen ab. Keine Chance für Mutti gegen Maniac.
Angekündigt war eine Auseinandersetzung Meeses mit Vladimir Nabokovs Skandal-Roman "Lolita". Ein weiteres Kapitel in der an Skandalen so reichen Rezeptionsgeschichte dieses Werkes wird allerdings nicht geschrieben im Stadttheater Dortmund. Denn Lolita kommt in all dem Remmidemmi nur in Spurenelementen vor. Entscheidend prominenter ist die Rede von "Deutschland" und "Mutter". Und natürlich von all den anderen Popkultur- und Privatmythen, die den Kosmos des Künstlers Meese seit vielen Jahren so untot durchwandern.
Meese hat auch die Bühne entworfen, die von zwei Fernsehern gerahmt ist, auf einem läuft "Zardoz" von 1973, auf dem anderen, wer ahnt es "The Wicker Man" von 1974. Große Meese-Bilder werden hinab- und hinaufgezogen. Anfangs ist noch ein überdimensionaler Bleistift ein Bühnenelement, den braucht man aber schnell nicht mehr. Lustiger ist da schon die Zuckerwatte-Maschine, unvermeidbar die Discokugel, immer noch beliebt die Nutella für die blanke Poritze.
Manischer Kindergeburtstag mit Getöse
Auf der Bühne werden fortan die sieben Spieler Gesamtkunstwerk spielen, das hier halt als manischer Kindergeburtstag mit reichlich Getöse und unbändiger Spielfreude zelebriert wird. Das Personal und die Verkörperungen geraten dabei naturgemäß unübersichtlich, von Handlung kann eh nicht gesprochen werden. Stattdessen treten nach und nach Figuren aus dem "Zauberer von Oz", den Fantomas-Filmen, Star-Wars-Antiheld "Darth Vader" und natürlich Nazis mit entsprechenden Hakenkreuzarmbinden auf, Uwe Schmieder läuft nackt umher und präsentiert seinen Anus - und mittendrin im Tohuwabohu Jonathan Messe - trotz der hochenergetischen Spielweise der "echten" Schauspieler als gravitätisches Zentrum Jonathan Meese. Präsenz kann er.
Dieses totale Theater zwischen Zitat und Zumutung, mit eingebautem Wiederholungszwang, schafft immer noch genug Bürgerschreck-Höhe (und auch Langatmigkeit), dass einige Besucher belustigt-beleidigt das Haus verlassen, genauso viele beginnen aber die offenen Türen zu nutzen, um sich mit alkoholischen Getränken in Bierbechern zu versorgen. Das könnte schon nachdenklich stimmen, Popcorn-Stimmung zum Horst-Wessel-Lied.
Und dann erscheint die reale Mutter
Es plätschert und plappert die Phrasendreschmaschine bis jeder Kalauer zweimal durch ist. Wer wirklich ganz eifrig nach Sinn suchen möchte, kann derweil im fotokopierten Manifest lesen, das zur Sicherheit auf den Plätzen liegt und die Verschriftlichung der im Netz veröffentlichten "Spielanleitung" darstellt.
Interessant wird es dann noch einmal kurz vor Schluss, als die reale Mutter Meeses der dutzendfach mit Unterstützung eines Rammstein-Songs untermalten Anrufung nachkommt und an der Bühne erscheint. Das Gesicht der Frau irritiert. Ihr sichtbarer Widerwille gegen Lärm, Hitlergrüße und Nazikostümierung auf der Bühne geraten zu etwas wie einem Realitätseinbruch. Der führt sogar dazu, dass ein Paar aus Protest gegen diese zumindest gefühlte "Instrumentalisierung" rausgeht. Tatsächliche ein wirklich unangenehmer Moment des Mitleids und der Fremdscham nach all dem zumindest als Zumutung inszenierten Geschehen.