Als Popliebhaber und Zeitungsleser auch schon des letzten Jahrhunderts zuckt man gleich zusammen am Anfang von "Gesamtklärwerk Deutschland". Der Sound der prominenten Synthieakzente im Bass, die hohe Melodie: Das ist doch eindeutig Kraftwerk, man kann da leicht "Trans Europa Express" erkennen und auch "Wir sind die Roboter". Man bangt um das Vermögen von Helmut Geier, dem sympathischen Münchner, der als DJ Hell noch länger auflegt als Ralf Hütter von Kraftwerk wegen eines Samples von zwei Sekunden gegen Moses Pelham prozessiert (seit 1998). Kraftwerk, deutsches Heimatgut in der ganzen Welt, verstehen absolut keinen Spaß, auch wenn der aus München kommt wie Helmut Geier alias DJ Hell. Oder sitzen die Anwälte schon dran?
Bang schreibe ich eine Mail an DJ Hell: Sind die Samples rechtlich geklärt, lieber Herr Geier? Oder müssen wir uns Sorgen machen? Die Antwort kommt rasch: "Keine Samples, alles neu eingespielt. Im Grunde ist es eine Verneigung, eine Huldigung." Hoffentlich sieht das auch die Kraftwerkverwaltungsmaschine in oder um Düsseldorf so.
Fürs erste bin ich beruhigt. Dann der Blick aufs Albumcover. Würden wir wirklich noch im 20. Jahrhundert leben wie diese Musik, dann hätte die Post eine gut verpackte Vinylschallplatte nach Hause geliefert, oder auch der Kurier, falls der werte Herr Kritiker es eilig hatte. Sofort wäre mir der orange-weiß gestreifte Leitkegel aufgefallen auf der Hülle. Kann man den patentieren lassen, ist das möglich? Kraftwerk und ihrer anti-popmusikalischen Kontrollwut wäre das durchaus zuzutrauen. Denn die Leitkegel sind ein durchgehendes Stilelement der ersten Kraftwerk-Alben seit 1970, bevor die Band 1974 mit "Autobahn" die Krautrock-Phase hinter sich ließ und ihre Musik fortan strenger und elektronischer klang. Ich habe die Musik in dicken digitalen WAV-Files erhalten – hochwertig zwar, aber das Artwork in Daumengröße habe ich erst übersehen.
Passt wie das Hinterteil aufs Entsorgungsobjekt
Allzu tief historisch sollte man aber nicht einsteigen, denn die Retro-Liebe (oder "Huldigung" in den Worten des Tonkünstlers) ist in erster Linie warm und nicht unbedingt präzise. Die Kegel standen am Anfang von Kraftwerk, die Soundsignaturen, die Hell nachbaut, finden sich alle in der Phase zwischen 1977 und 1981, auf den drei maximal einflussreichen Alben "Trans Europa Express", "Die Mensch-Maschine" und "Computerwelt". Was im künstlerisch-musikalischen Vergleich sogleich auffällt: Wie luftig, zart, minimal auch die bekannten Kraftwerk-Originale klingen, und wie sehr der Münchner Plattenkünstler Hell dann doch von der Aufzucht mit der Tanzpeitsche geprägt ist. Hier ist alles größer, dichter, fetter. Aber Kunst ist natürlich das Stichwort für Jonathan Meese, größer sowieso, denn unter irgendwas mit Deutschland macht er es bekanntlich selten.
Und da muss man sagen: Geniale Kombi, Kraftwerk by way of Hell und Meese, das passt doch wie Hinterteil auf Entsorgungsobjekt. Kraftwerk kokettierten ganz ähnlich mit dem faschistoiden Glamour der Moderne, der eleganten Effizienz deutscher Ingenieurskunst und natürlich mit dem größten Bauwerk des Nationalsozialismus, der Autobahn. Und dennoch war allen außer ein paar Wollpullovern und K-Gruppen-Heinis klar: Haha, das sind ja gar keine Nazis. Meese mit seinem Exorzismus der Totalkunst und dem Rigorismus seiner Wortschöpfungen mit der Vorsilbe Erz-, die jeden Begriff auf eine imaginäre, unerbittliche Konsequenz zurückführen will: Das ist im Prinzip auch nur Kraftwerk, mit weniger Handwerk und Strenge als die Düsseldorfer Kling-Klang-Tüftler zwar, dafür mit deutlich mehr Humor und Spaß an der dunklen Freude.
Wenn Meese, der jüngere – auf seine Mutter kommen wir gleich noch zu sprechen – das "Gesamtklärwerk Deutschland" fordert und selbst die Editierkünste von DJ Hell die Phrase nicht rund ins Eckige des Vierviertels kriegen, sperrt sich etwas. Als würde der Totalkünstler Meese den Flow des Rattenfängers Hell kontern, als kleines Korn in der Maschine. Denn es gibt viel zu tun: Deutschland müsse kleiner werden, damit es größer werden könne, heißt es in einem andern Track. Vermutlich, da liegt ganz schön viel Autotune über allem. Deutschland liegt dafür unter allem, das ist viel besser als "über alles".
Riesiger dialektischer Aufwand
Der dialektische Aufwand ist riesig: Aus klein wird wieder groß, Meese sagt so oft Deutschland, bis das Wort nichts mehr bedeutet, zumindest nichts Großes, der Rest erledigt die Kunstarbeit im Gesamtklärwerk. Da kann man schon mal "müde" werden, wie der zweitletzte Track heißt. Brigitte Meese, laut der Zeitschrift "Stern" 92 Jahre alt, will eingangs "mal sehen, was da noch geht". Die Buben erholen sich gerade etwas. Mutter Meese scheint das alles nicht derart zu schlauchen wie die Jungs, aber sie ist auch die selbsternannte "Lady Tolerant". Das dürfte einfach weniger anstrengend sein, als ständig Dr. Deutschland zu spielen wie ihr Erz-Sohn Jonathan.
Am Ende jagt Hell die Meese-Tokens "Kunst" und "Deutschland" durch den Vocoder und kommt klanglich seinem eigenen Dance-Universum wieder näher. Auch da hören wir zwar noch die aufsteigende Glasperlenkette aus Kraftwerks "Spiegelsaal" (nachgebaut!), die etwa Juan Atkins und Rick Davis aus Detroit unter dem Namen Cybotron 1983 in den legendären Electro-Track "Clear" verbauten. Aber die warmen Mitten, mit denen Hell die Dancefloors immer auch in etwas Plüsch hüllen kann, sind am Ende dieser halben Stunde wieder da, der Klärvorgang, über das Alte wieder zum Eigenen, wer weiß: Zum Neuen zu finden, scheint fürs Erste geglückt.
Das KI-gestützte Musikvideo von Andres Loff zu "Gesamtklärwerk Deutschland" ist zu durchgeknallt, um noch etwas Sinnvolles dazu sagen können. Nur so viel: Es nimmt einem für fünf Minuten die berechtigte Angst vor den neuen Maschinen, weil der Kurzfilm klar macht, dass dahinter wie früher bei der Zeitung doch noch ein kluger Kopf steckt. Und stimmt es nicht ein wenig versöhnlich, dass man die ganze Arbeit dank der Maschine nicht immer allein machen muss? Wer braucht das Gym, die Rennerei, das Botox und das unter der Erde schwer abzubauende Collagen, wenn man mit ein paar Knopfdrücken so gut aussehen kann wie die feschen Herren in diesem Video?