Betritt man dieser Tage die Galerie Eigen + Art in Berlin-Mitte, sieht man sich unwillkürlich einem riesigen, in Zitronengelb strahlenden Schriftzug gegenüber, der der aktuellen Ausstellung zugleich ihren Titel gibt: "Hi {first name}, I hope this finds you well". Auf den ersten Blick denkt man vielleicht noch: Ach wie nett, was für eine freundliche Begrüßung! Endlich mal eine Galerie, in der man als Gast noch Königin ist.
Doch schon beim zweiten Blick erweist sich die aus unendlichen Mailverteilern bekannte Begrüßung als furchtbar unpersönlich und nur scheinbar vertrauensvoll. Hinter der Freundlichkeit liegt in der Ausstellung des Künstlers Martin Gross eine erschütternde Schärfe, wird dem Besucher oder der Besucherin doch ihre Austauschbarkeit unmittelbar vor Augen geführt. Unsere Sehnsucht nach Individualität wird eines Besseren belehrt und wiederholt damit eine Erfahrung, die uns im Internet alltäglich widerfährt.
Kommentiert wird dieses Gefühl von einem in den Schriftzug gesetzten Bild, auf dem steht: "Kids with Dreams". Ist unser Verlangen nach nach Einzigartigkeit und unbegrenzter Freiheit, die das Internet verspricht, ein ferner Kinderwunsch, eine pure Illusion? Tatsächlich kann der Spruch, der sich von einem schwarzen, an ein Fotonegativ erinnernden Hintergrund abhebt, als der eigentliche Titel der Ausstellung verstanden werden. In dieser stellt Martin Gross die Kehrseiten eines ehemaligen Versprechens von den Anfängen des Internets künstlerisch zur Schau.
Abstieg in eine überbordende Post-Internet-Welt
Über eine Treppe steigt das Publikum hinab in eine überbordende Post-Internet-Welt. Dabei schaut es auf einen fünf Meter hohen Schriftzug an der hinteren Stirnseite, der als Kommentar zu unserer heutigen Zeit gelesen werden kann: "It’s either diluted or bloated“, was so viel heißt wie, es ist entweder verdünnt oder aufgeblasen. Flankiert wird die Blickachse von zwei weiteren, die Wände einnehmenden Darstellungen. Auf der rechten Seite erstrahlt eine gigantische, in Pixeloptik gehaltene Sonne, entlehnt aus dem Bild "Time unveiling truth" des barocken Künstlers Giovanni Battista Tiepolo. Auf der linken Seite erstreckt sich eine Zeichnung eines cartoonartigen Auges auf Beinen im Panoramaformat. Das Sinnesorgan kratzt sich scheinbar verwundert das Lid.
Durch diese räumliche Gestaltung, überkommt die Betrachterin schon vor dem eigentlichen Studium der Bilder das immersive Gefühl, mitten rein zu laufen in ein Kunstwerk und von diesem im wahrsten Sinne umschlossen zu werden. Wie schon am Eingang hängen auch auf diesen beiden riesigen Wandbildern mehrere einzelne Gemälde. Die ausschließlich mit Ölkreide gezeichneten Bilder führen in eine abstrakte Traumwelt. Beim Betrachten stellt sich ein merkwürdiges Gefühl ein, ein bisschen so, als würde man in das dystopisch anmutende Unterbewusstsein des Internets selbst eintauchen.
Die in knalligen Farben gehaltenen Bilder spielen hier mit einer Glitch-Optik, die trotz ihrer Flächigkeit durchdrungen ist von feinen Details. In ihnen überlagern und verschwimmen Collagen-artig unterschiedliche Bildebenen. Teilweise wirkt es, als wäre man in einem Spam-Ordner gelandet, in dem die unterschiedlichsten Reste des World Wide Web verbildlicht wurden. Die beeindruckende Akkuratesse mit der Gross dabei auch noch die letzten Zentimeter der Gemälde füllt, besticht mit einer Detailverliebtheit, in der man sich leicht verlieren kann.
Kommentar zur Gefühlslage der Besucher
Insbesondere drei überdimensionale Bilder nehmen die Aufmerksamkeit voll in Beschlag und beamen die Betrachterin in andere Dimensionen. So sieht man etwa einen bunt gekachelten Tunnel, der an die psychedelischen Lichtgeschwindigkeits-Effekte aus Filmen der 70er und 80er erinnert, und an dessen Ende auf einer schwarzen Fläche ein bedrohlich wirkendes Spinnennetz prangt. Bei einem anderen Werk scheint man direkt in einen sehr persönlichen Traum zu platzen.
Einzelne, nicht zu trennende Szenen überdecken sich und verschwimmen ineinander. Auf einem bunt verpixelten Hintergrund prangt eine schwarz-weiße, an ein Alien erinnernde Figur, die wie bei der Verstoßung des Engels Luzifer rücklings aus dem Bild zu fallen scheint. Halbüberdeckt ist ein Schriftzug, der das Wort strange vermuten lässt, darüber eine wie in einem Kinderbuch gezeichnete Schnecke, die kopfüber über der Szene schwebt. Die Bilder zu erkunden bedeutet Freude und Genuss und lässt einen zugleich rätselnd zurück.
Gegenüber hängen fünf kleinere Bilder. Die sehr bunte und flashige Sprache der Großformate wird hier fortgesetzt. Teilweise wirken sie wie kleine Ausschnitte aus den großen Traumlandschaften. Gebrochen werden diese Sequenzen von poppigen Sprüchen wie "Give me a break" oder "Oh Dear!". Es scheint ganz so, als würde der Künstler nicht nur die Überforderung angesichts der Bildwelt des Internets, sondern auch die Gefühlslage der Besucher angesichts dieser knallenden Optik reflektieren und kommentieren. Damit durchbricht Gross zugleich die Ernsthaftigkeit seiner Bilder und rahmt sie in einen angenehm humorvollen Kontext.
Post Internet Art trifft versierte Malerei
Über all dem schwebt in der obersten Ecke der Galerie eine auf ein Plakat gedruckte Weltkugel. Auf ihr prangt in giftgrüner Gruselschrift: "Oops! Something went wrong". Wohl nichts fasst die Gefühle, von denen man angesichts der Abgründe, Irrwege und Absurditäten des Internets erfasst wird, treffender. Aus den Kinderträumen der digitalen Anfänge, die eine Welt imaginierten, in der Menschen gleichberechtigt partizipieren können, ist ein dystopischer Ort voller verwegener Ecken und Winkel geworden, der uns oft nicht nur ratlos, sondern auch maßlos überfordert zurücklässt.
Dieses beklemmende Gefühl weiß Martin Gross auf interessante Weise ästhetisch einzufangen und zu vermitteln. Für alle, die noch nicht wissen, was Post-Internet-Kunst eigentlich ist und wie sie sich mit versierter Malerei vereinen lässt, hält diese durch und durch beeindruckende Ausstellung eine fulminante Antwort bereit.