Marius Glauer in Linz

Die weichen, weißen Windungen der Sprühsahne

Während heute jeder eine Hochleistungskamera in der Tasche hat, taucht der Künstler Marius Glauer nach dem Unbekannten. In seiner aktuellen Ausstellung in Linz zeigt er, wie eine Weiterentwicklung der Fotografie aussehen könnte

Als Marius Glauer sich 2012 seine Sprühsahne-Bilder "Red Foil Whip Cream" ausdachte und fotografierte, weiche weiße Windungen auf rot schillerndem Lentikularfolien-Grund, hatte er schon die fensterlose Kellergalerie Heit in Berlin mitgegründet. In diesem Rahmen experimentierte er immer mal wieder mit anderen Kunstformen. Doch Zweifel, dass die Fotografie sein Medium war, gab es nie. 

Das zeigt schon "Untitled (Abstracts) 27" von 2010, ein post-postmodernes Ertasten moderner Formen – oder doch eher Scifi-Groteske? So oder so, es ist ein mit den Mitteln der Fotografie festgehaltenes Bild, dessen Gegenstand Glauer selbst erfand, aufbaute, inszenierte - und hier liegt seitdem das Besondere seiner Kunst. Dauernd fragte er sich, wie er die Fotografie erweitern könnte. Erste Antworten hatte er im Bereich des Motivs gefunden, und zwar in dessen vollständiger Neudefinition. Was auf seinen Bildern zu sehen ist, was sie bedeuten, darüber könnte man lustige Bücher schreiben, oder ganz simpel mit dem Titel antworten: Rote Folie und Schlagsahne, sieht man doch, oder?! 

Heute, 13 Jahre später, seine erste Museumsausstellung "Wait a Minute" in Linz. Dort hat Glauer das cremige Motiv auf drei Fahnen drucken lassen, die die Besucherinnen und Besucher draußen an der historistischen Fassade des Francisco Carolinums fröhlich begrüßen. Ein exzellenter Ort für diese Kunst. Denn das Museum, eröffnet schon 1895, schenkt seit 2020 unter dem wissenschaftlichen Geschäftsführer Alfred Weidinger Fotografie und Medienkunst intensive Aufmerksamkeit. 

Schneise ästhetischer Kühnheit 

Wenn man die lichten Räume betritt, fällt sofort auf, was Glauer neben dem Motiv sonst noch bearbeitet: die räumliche Stellung des Bildes. Gemeinsam mit der Kuratorin Susanne Watzenboeck hat er eine Schneise ästhetischer Kühnheit durch die Museumsräume geschlagen, mit Fotos im Fine Art Print, die zu Skulpturen werden, mit quadratmetergroßen Assemblagen, mit von der Decke baumelnden La Buses – in Harz gegossene, mit Acrylglas versiegelte C-Print-Röhren. Und mit der schillernden "Flash"-Serie, ganz klassisch an der Wand, sowie Passepartout-gerahmten "Radical Roses", flach in Vitrinen liegend. 

"Marius Glauer bringt Fotografie auf ein neues Level", sagt Watzenboeck. In dieser Aussage liegt nicht nur berechtigter kuratorischer Überschwang. Tatsächlich zeigt Glauer in Linz, was Fotografie noch so alles kann, gerade weil sich ihre Rolle seit Anfang des 21. Jahrhunderts extrem verändert hat. 

Was soll man fotografieren, wenn Bilder Massenware sind, wenn alle mit Hochleistungskameras in der Tasche herumlaufen? Wenn schon die legendäre Magnum-Agentur jetzt auch Insta-Fotobücher herausbringt? Wenn man Fotos digital so stark manipulieren kann, dass sogar "die Illusion nicht mehr real" ist, wie der Künstler Adrian Sauer anlässlich seiner eigenen Linzer Schau 2023 feststellte? 

Etwas hochholen, was nicht existiert

Presse- und Dokumentarbilder führen globale Zusammenhänge zentimeternah vor Augen, siehe etwa den Fotowettbewerb von Unicef 2024, doch zeigt das noch Wirkung? "Früher haben Fotos Konflikte verändert. Das Ende dieser Art von Fotojournalismus ist eigentlich schon eingeläutet", so jüngst Andreas Wellnitz, einer der wichtigen deutschen Fotoredakteure, in einem Podcast.

Glauer hat sich schon früh dafür entschieden, überhaupt keine Dokumentar-, Presse- oder People-Fotografie zu machen. In der Bilderflut des 21. Jahrhunderts taucht er nach dem Unbekannten, will das hochholen, was noch nicht existiert. Zumal Glauer sich damit geschickt zu Wolfgang Tillmans positioniert, dessen ausuferndes fotografisches Werk wie ein Sternbild über den mit Kameras arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern dieser Jahrzehnte leuchtet. Wer nicht dort hochschauen würde, lebte hinterm Mond.

Für das Titelbild der Ausstellung hat Glauer, seine fotografische Nische weiterentwickelnd, eine simple Auster zusammen mit einem schnöden Schneckenhaus fotografiert, ziemlich kitschverdächtig. Allerdings wirkt "Oyster" (2024) dann doch nicht wie die Speisekarte eines mediterranen Restaurants. Viel zu kühl, viel zu solitär schweben die kalkigen Hüllen im mit Wassertropfen besetzten Knallblau – direkt aus dem Lichtmeer der "Flash"-Serie (2024) gefischt, ach was, warum nicht gleich aus der Unendlichkeit visueller Fantasie? 

Ein auratischer Zusammenhang

Doch ein bisschen darf man ruhig auch an der Oberfläche bleiben, im Wortsinn. Erstens, das Lametta-Leuchten bei "Flash" ist dem reflektierten Blitz der Kamera geschuldet. Zweitens, die "Oyster"-Meeresobjekte wurden auf einem Spiegel liegend fotografiert. Das Blau ist keine Meeres-, sondern Himmelstiefe – ein typischer "Backdrop" des Künstlers. Unter anderem darüber schreibt Charlotte Sarrazin in ihrem "Glossar Glauer" im Ausstellungskatalog.

"Oyster" ist mit unter 30 Zentimetern die kleinste Arbeit Glauers. Bei der Ausstellung schwebt sie als Teil der Assemblage "Wait a Minute" weit oben an der Wand, ein auratischer Zusammenhang, den man nicht ohne Weiteres anrühren sollte. 

Geht man damit nachlässig um, passiert Entzauberung: siehe Nan Goldins ikonische, doch dann zu groß aufgeblasenen Bilder 2024 bei Gagosian oder auch William Eggleston 2023 bei C/O Berlin. Unschön, wenn da nur, merkantil motiviert, aus alten Kunstobjekten neue gemacht werden – das erklärte jüngst die Fotografie-Expertin Diandra Donecker vom Auktionshaus Grisebach. 

Grotesk, überwältigend, spielerisch

Der Objektstatus des Bildes, das weder beliebig im Format manipuliert werden noch einfach irgendwo im Internet abschmieren darf, ist heute so wichtig wie anno dazumal die Positionierung von Altarbildern oder Fresken. So gutgelaunt sich Glauer mit Witz und knalliger Farbigkeit an digitale Bildsprachen anschmiegt, so sehr berücksichtigt er Materialität und Raum. Ob nun die schneeweiße, niedrige Kellergalerie in Berlin oder das triumphale Historismus-Ambiente des Carolinum in Linz mit meterhohen Decken und Fischgrätenparkett: Er bindet jede Location ein. 

Das zeigt sich schön bei den acht wuchtigen Fotoskulpturen, darunter "Black" und "Joie des vivre 3", die in dem 20-Meter-Mittelraum einer ebenso langen und vier Meter hohen Assemblage namens "Miralago Black Buren" trotzen. Dabei handelt es sich um ein auf Fahnenpolyester gedrucktes Motiv des Künstlers in Kombination mit den durch Daniel Buren berühmt gewordenen weiß-roten Streifen. Grotesk, überwältigend, spielerisch. 

Passend dazu sind Marius Glauers "Radical Roses" mit ihren vertrockneten Blütenblättern kein memento mori, sondern Zeichen ästhetischer Freude. Nachdem er sie inszeniert und fotografiert hat, verschwinden sie, bleiben nur als Bild. Mehr Aura kann man der Fotografie heute wohl kaum zurückgeben.