Mariela Scafati, wie entstehen die Ideen für eine neue Arbeit? Wie beginnen Sie diese?
Meine künstlerischen Arbeiten entstehen auf eine chaotische, aber für mich sehr fließende Art. Sie versuchen Spannungen zu überwinden, die zwischen persönlichen und kollektiven Praktiken bestehen können. Einige meiner Herangehensweisen sind eher mit territorialem Aktivismus verbunden, andere mit internationalem, wieder andere mit Kunst oder mit Mikropolitiken. Für mich persönlich ist Malerei immer die Grundlage, mit dieser passieren im Arbeitsprozess dann verschiedene Dinge: Manchmal entstehen Möbel, manchmal Installationen, manchmal bilden die Leinwände Körper. Ich kümmere mich nicht so sehr um das künstlerische Genre, denn alles entsteht auf Basis der Fragen, mit denen ich an ein Bild herantrete.
Sie kommen gerade von einer Ausstellung in Madrid, jetzt sind Sie hier in Berlin und fahren anschließend nach Kassel zur Documenta: Welche Beziehung besteht zwischen diesen Ausstellungen?
Es gibt eine klare Verbindung, beinahe so etwas wie eine Agenda, und das ist der globale Süden: In Kassel sind wir alle Gruppen aus dem globalen Süden, Künstlerinnen und Künstler, die nicht zum hegemonialen Zentrum gehören. In Madrid handelt es sich um eine Ausstellung lateinamerikanischer Grafiken, die auf der Grundlage einer sechs Jahre langen Recherche entstanden ist. Dort war es einfach, sich wohlzufühlen, zwischen all den Menschen, mit denen man etwas gemeinsam hat, die sich gut verstehen. Zwischen der Ausstellung im Reina Sofia und der Documenta 15 gibt es eine zentrale Verbindung, und das ist das Nachdenken über und das Arbeiten mit dem Ort. Die Arbeiten entstehen im Museum, verlassen dieses dann, gelangen in Form von Workshops in die Nachbarschaft, um dann wieder ins Museum zurückzukehren. Die Ideen von Ruangrupa für Kassel sind damit vergleichbar. Es ist ein dezentrales Denken. Das ist etwas, das hier in Berlin nicht wirklich passiert.
Bevor wir über Ihre beiden Kollektive sprechen, lassen Sie uns erst darüber reden, in welchem Verhältnis Aktivismus und künstlerische Arbeit stehen.
Es bestehen immer Spannungen: Die Kunst ist eine große Verbündete für alles, was auf der Straße passiert, aber sie folgt einer anderen Logik, die sich von denen einer Versammlung oder Entscheidungsfindung unterscheidet. Mich persönlich hat die Politik vor der Kunst gerettet. Das meine ich natürlich ironisch, aber ich fühle das vor allem auch umgekehrt, die Kunst hat mich vor der Politik gerettet, sie hat mir eine Pause verschafft. Sie hat eine Zeit kreiert, die außerhalb der politischen Zeit liegt. In den letzten Jahren haben wir in Argentinien und in anderen Ländern des Kontinents nicht mehr innegehalten, wir mussten auf den Straßen sein. Das ist ein sehr physischer Akt, in dem der Körper eine große Rolle spielt und in Argentinien ist es unmöglich, dieser Realität zu entkommen. Das ist etwas, das die Kunst sehr stark geprägt hat, diese politische Kultur.
Ihre Arbeit "Movilización" (Mobilisierung), die bei der letzten Berlin Biennale "Der Riss beginnt im Inneren" in den Kunst Werken zu sehen war, ist während der Corona-Pandemie entstanden. Hat die Arbeit einen Zusammenhang mit dem pandemischen Geschehen und den kollektiven Formen, die Sie eben beschrieben haben?
Ja, auch hier wird das Kollektive sehr deutlich. Bereits bevor die Pandemie begann, waren die Leinwände auf dem Weg nach Berlin. Diese bildeten stehende Körper von Freundinnen und Freunden, kurz bevor wir zu einer Demonstration rausgehen. Mit dem Beginn der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass das nicht mehr den Tatsachen entsprach, dass es zu viel Fiktion war und nichts mit dem Moment zu tun hatte.
Inwiefern?
Ich dachte dabei an die Perspektive von außen: Was erwartet ein europäisches Publikum von Lateinamerika? Heldenhafte Körper, die protestieren gehen, die sich widersetzen. Während des Lockdowns begann ich die Kuratorinnen davon zu überzeugen, dass die Körper liegen müssten. Zunächst sagten sie, dass auf dem Boden liegende Körper Assoziationen zu Leichen hervorrufen würden, was sehr stark mit der Idee des siluetazo, der Silhouette, verbunden ist. Unsere Körper heute sind in diese Geschichten eingebettet, aber es gibt noch viele andere Geschichte zu erzählen. Die Körper von "Movilización" waren nicht die von Verschwundenen, es sind meine Freundinnen und Freunde. Die Art und Weise, wie sie während der Pandemie protestierten, war auf dem Boden liegend. Um Proteste und Körper geht es ebenso in den Arbeiten, die gerade im Hamburger Bahnhof gezeigt werden.
Haben Sie künstlerische Vorbilder?
Für mich sind die großen Künstlerinnen, die größte Inspiration, zweifelsohne die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo. Ich denke dabei an den siluetazo, eine Strategie der Menschenrechtsbewegung in Argentinien, bei der die Umrisse von Körpern im Stadtraum aufgehängt werden*. Er ist von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt worden, aber ohne den Dialog mit den Müttern und Großmüttern wäre das nicht möglich gewesen. Ursprünglich war die Idee, die Silhouetten auf den Boden zu malen, was die Mütter und Großmütter nicht wollten. Für sie konnten ihre Kinder nicht auf dem Boden liegen, weil es keine Leichen waren. Dadurch entstand der Gedanke, die Silhouetten auf Papier zu zeichnen und an Wände zu kleben. Dieser Gedanke ist sehr künstlerisch, von jemandem, der Formen der Kommunikation bedenkt und versteht, was es bedeutet, ein Bild als Ausdrucksmitteln zu nutzen. Darin liegt die Macht, die Macht, die zwischen Kunst und Politik entsteht. Das Großartige an den Künstlerinnen in diesem Fall ist, dass sie diese Dinge geschehen und dass sie die Menschen und die Öffentlichkeit an ihrer Arbeit Anteil nehmen ließen. Für mich ist dieser Moment eine große Instanz, der die Geschichte stark geprägt hat und so zu einem Symbol werden konnte.
Die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo sind Organisationen, die darauf zurückgehen, dass sie im Jahr 1977, während der brutalen Diktatur in Argentinien, begannen, auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, der Plaza de Mayo, wöchentlich für ihre verschwundenen Kinderzu demonstrieren. Als Erkennungszeichen trugen sie dabei ein weißes Kopftuch, auf das Namen und Tag des Verschwindens ihrer Angehörigen gestickt waren. Die Farbe Weiß ist bis heute unauflöslich damit verbunden. Du arbeitest viel mit Farben und Stoffen, auch die Arbeiten im Hamburger Bahnhof sind davon gekennzeichnet. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Farben sind nicht neutral. In Madrid war ich mit dem Kollektiv Cromoactivismo eingeladen, wir verstehen uns als Anti-Pantone-Gruppe, als Künstlerinnen und Künstler, die einen poetischen und transversalen Aktivismus mit der Farbe betreiben. Wir arbeiten auf der Straße.
Wie zum Beispiel?
Während des Macrismo [Mauricio Macri, Präsident Argentiniens 2015–2019, Anmerkung der Redaktion] wurde versucht, die Bestrafung der Folterer der Diktatur zu reduzieren. Wir als Gruppe waren im Schock, niemand hatte gedacht, dass das möglich sei. Was wir als Reaktion darauf taten, war, mit weißen Stoffen auf die Straße zu gehen. Dadurch entstand eine öffentliche Debatte, denn einige sagten, dass das Weiß quasi heilig sei, es ist das Tuch der Mütter. Genau in diesem Moment trat Milagro Sala, eine politische Aktivistin aus dem Norden, eine indigene Frau, die inhaftiert war, hervor und hielt ein weißes Tuch an den beiden Ecken in die Luft. Damit war der Pañuelazo geboren, den wenig später die feministische Bewegung für die Forderung nach legalem, sicherem und kostenlosem Schwangerschaftsabbruch aufgriff. Es ist ein weiteres Werkzeug des Protests; eine große Aktion, die allen gehört.
Beim Pañuelazo wird ein dreieckiges Tuch an zwei Punkten festgehalten und die Arme werden damit in die Luft gestreckt – etwas, das seine volle Wirkung nur im Kollektiv entfaltet. Kollektive Arbeitsweisen spielen in deiner Praxis eine große Rolle: Wie gestaltet sich für Sie die kollektive künstlerische Arbeit?
Das ist ähnlich wie das, was ich über die Beziehung zwischen Kunst und Politik gesagt habe: Zwischen meiner persönlichen Arbeit und der Arbeit im Kollektiv bestehen Spannungen und gegenseitige Befruchtungen. Meine persönliche Arbeit besteht aus Geschichten und kollektiven Erinnerung, sie ist durchzogen von vielen Dialogen. So ist beispielweise die Arbeitsweise mit der Gruppe Serigrafistas Queer: Die Sätze, mit denen wir arbeiten, ergeben sich auf den Straßen, auf den Plätzen, gemeinsam mit anderen Gruppen. All das sieht man nicht, aber es geht um die Botschaften, die dabei entstehen. So ist auch "Algo se rompió" (Etwas ist zerbrochen) im Hamburger Bahnhof zu verstehen: Sie ist voller Zitate aus meiner Umgebung, es ist eine Arbeit von mir, aber ohne andere könnte sie nicht bestehen.
*Der siluetazo wurde erstmals 1983, zu Diktaturzeiten, in Argentinien durchgeführt, initiiert durch die Künstler Rodolfo Aguerreberry, Guillermo Kexel und Julio Flores. Bei dieser Aktion wurden Umrisse von Menschen auf Papier gemalt und über Nacht an Wänden in der Innenstadt von Buenos Aires‘ angebracht, um deren räumliche Abwesenheit im Abbild des Körpers zu vergegenwärtigen.