Die besten Kinderbuch- und später Serienfiguren waren immer jene, die ein bisschen zwischen den Kategorien steckten. Die nicht nur lieb und süß, gut und integer, sondern vielleicht auch latent gruselig, zweigesichtig, indifferent wirken konnten. Die eine Verunsicherung stifteten, die Lücken aufmachte zwischen der Erzählung und der ultimativen Identifikation mit ihren Bildern. So ähnlich kann es einem heute noch bei Marco Schuler ergehen, der jetzt in der Kunsthalle Darmstadt ausstellt.
Schon vor dem Ausstellungsbau der Auftritt des "Radix", einer übergroßen Zinkskulptur, die in zweifacher Ausführung entwaffnend fröhlich über den Vorplatz strahlt und dabei mit ihren spitzen Zacken in übermenschengroßer Dimension trotzdem einen Hauch von Gefahr verströmt. Oder eher, ein Potenzial von Gefährlichkeit. Und wohin dann wieder mit der freundlichen Albernheit? Es ist offenbar gar nicht so trivial, diesem Wesen zu begegnen, das jenseits jeglicher Kunstmarktcoolness existiert, aber auch nichts vom zugänglichen Massenappeal zum Beispiel der ubiquitären Kaws-Figuren hat. "Eine gelungene figurale Kreuzung aus Christkind und Gartenzwerg", heißt es dazu auf der Seite des Künstlers, die man zwecks Einordnung an dieser Stelle aufrufen könnte.
Das gibt es jedenfalls auch nicht mehr alle Tage: Eine relativ groß angelegte Schau, die quasi ohne Interpretationsempfehlungen und ellenlangen Pressetext auskommt. Die keine kuratorische Deutungshoheit für sich beansprucht, bloß ein paar recht eigenwillige Assoziationen hinwirft ("den mentalen Bauernhof bewirtschaften", "Da Vinci trifft Buster Keaton"). Was in diesem Fall ein großes Glück ist, denn so steht man den Wesen, Figuren und Szenarien unvermittelt gegenüber, nur auf die eigenen Assoziationen zurückgeworfen, manchmal unschlüssig, was man von diesem oder jenem zu halten hätte.
Figuren als Subjekte ihrer eigenen Welt
Insofern passt Schuler sehr gut ins Ausstellungshaus mit seiner wohl bewusst minimalistisch gehaltenen Textpolitik, wo er jetzt nicht nur Vorplatz und Galerie, sondern auch den großen Oberlichtsaal bespielt – und zwar in doppelter Bildreihung übereinander und noch dazu in Form kleiner, ihrerseits freundlich dreinblickender Skulpturen als Absperrungslinie vor den Bildern, was eine angenehme Überforderung ergibt. Viele Motive stammen aus den Jahren 2022 oder gar 2023, es sind (Post-)Coronawerke, eine offenbar höchst produktive Zeit für Schuler.
Im großen Raum wartet so eine ganze Armada reizender Entitäten in fabelhaften Farbräumen auf; Gespenster, Aliens, Tiere, Fratzen, Pilzhüte oder Quallen mit Füßen, Märchenfiguren und Fabelwesen, manche menschlicher als andere, die aus Dachluken schauen, sich zur Cheerleader-Pyramide formieren oder vor neonfarbig illuminierten Schlössern marschieren. Einige könnten entfernte Verwandte von Miriam Cahns geisterhaften Figuren sein, andere eher mit André Butzers comicartigen Leinwandwesen zarte familiäre Bande teilen, wieder andere aus ebenjenen Kinderbüchern oder Computerspielen entsprungen sein, ohne sich so jeweils hinreichend beschreiben zu lassen.
Viele blicken geradezu schmerzvoll aufgeschlossen in die Welt (in anderen Kontexten wurde dafür das Wort "verstrahlt" erfunden). Alles, was wir unseren Mitmenschen so andichten und auf sie projizieren, es scheint sich in Schulers Figurencast zu manifestieren. Manche möchte man regelrecht beschützen. Anderen traut man womöglich, gerade ob ihrer Offenherzigkeit, selbst nicht ganz über den Weg. Allesamt aber sind sie Subjekte ihrer eigenen Welt, brauchen ihr Publikum vielleicht gar nicht, das sie fasziniert bis fragend anstarrt, und vielleicht liegt hierin ihr eigentliches, irritierendes Geheimnis.
Von wenigen Pinselstrichen bis zu dreidimensionalen Skulpturen
Wenngleich das Grundrepertoire schnell abgesteckt ist, wird einem bei Marco Schulers Szenerien auch nach 40, 50 Werken nicht langweilig. Seine Bildräume funktionieren als wirkliche Räume, obwohl sie selten deren Illusion anstreben. Sehr spezifische, oft sehr komische Szenarien entwirft Schuler, der ursprünglich als Bildhauer ausgebildet wurde und Meisterschüler bei Olaf Metzel in München war, da in Serie; auf Leinwand, mit wenigen Pinselstrichen und Farben, mal collagiert, mal Scherenschnitt, manchmal mit Leinwand als Material und in dreidimensionalen Skulpturen.
Im letzten Teil der Ausstellung, die sich in einem schmalen Zwischengang des Ausstellungsbaus abspielt, tritt der Künstler selbst in Erscheinung: Auf kleinen Screens werden Videoarbeiten aus den Jahren 2008 bis 2009 gezeigt, die als eine weitere künstlerische Umkreisung desselben, wenngleich unbenannt bleibenden Kerns einleuchten. Sonderbar und geradlinig zugleich erscheinen die kurzen Loops, von denen jeder einzelne so gut unterhält, dass man sie gerne mehrfach anschaut (auch dies eine Qualität von Marco Schulers Kunst): Ähnlich einer Traumlogik, in der auf die pervertierte Anwendung der Regeln und Zusammenhänge kurz darauf schon die Einsicht folgt, derart habe selbstverständlich alles genau seine Richtigkeit und nicht im bisher für richtig Befundenem.
In dieser Dada-Selbstverständlichkeit nimmt Schuler im orangefarbenen Overall die Dinge beim funktionellen Namen und tut, was man als Mensch mit ihnen tun kann: Kriecht einmal quer durch ein verlegtes Rohr im Waldboden, läuft Treckerfahrgassen im Feld einmal komplett ab, besteigt einen überhängenden Baum, um sich faultierähnlich bis zu dessen Spitze entlangzuhangeln. Im Vorraum, in dem die Bilder und Wesen vom Boden bis zur Decke reichen, hat der Künstler einen Satz versteckt, der wenig und viel erklärt: "Alles ist schon da!" Stimmt natürlich immer irgendwie. Schulers Kunst nimmt sich, was ihr Künstler im Atelier so vorfindet und wem er dort begegnet, und läuft zusammen ins Offene.