"Fotografie 2.0"-Kolumne

Die Macht der Stereotypen brechen

Viele junge Frauen sind in sozialen Medien mit der Inszenierung von engen Rollenklischees erfolgreich. Lehnt sich jemand gegen gängige Schönheitsideale auf, wird es schnell unangenehm

Männer sollen Frauen nicht fotografieren wie Männer. Frauen sollen Frauen nicht wie Männer fotografieren. Es ist kompliziert. Sehr. Frauen sollen nämlich nicht zum Sexobjekt degradiert werden, das aber passiert häufig in der Fotografie. Und natürlich denkt man, dass genau das nicht passiert, wenn Frauen sich selbst oder andere Frauen fotografieren. Kurz durch Instagram gescrollt und der Eindruck ist schnell ein anderer

Die Diskussion ist übrigens nicht ganz neu. Sie kocht immer mal wieder hoch, besonders wenn eine neue Generation von Fotografinnen auf sich aufmerksam macht. In ihrer Januar-Titelgeschichte von Monopol schreibt Silke Hohmann: "Junge Fotografinnen holen sich die weibliche Erotik zurück. Sie zeigen sich sexy und halbnackt. Ist das Selbstermächtigung oder sexistisch?" Wenn Frauen andere Frauen fotografieren, ist die Erwartungshaltung, dass sie eben nicht die Bilder produzieren, die auch ein männlicher Fotograf machen würde. Gerade in den sozialen Medien, wo Frauen sich häufig selbst fotografieren, würde man weniger nackte Haut und sexy Posen erwarten. Und dann sieht man doch wieder Bilder, wie man sie aus der Werbung kennt: laszive Posen, sexy Blick, gängige Schönheitsideale.

Es ging ein Ruck durch die deutschen Medien, als die Schauspielerin Maria Furtwängler die Ergebnisse der von ihrer Stiftung MaLisa in Auftrag gegebenen Studie veröffentlichte und kommentierte. Das war vor genau einem Jahr. Untersucht wurde, wie sich Influencerinnen und junge Frauen in den sozialen Medien selbst darstellen. "Das Frauenbild orientiert sich an den Fünfzigerjahren", titelte der "Spiegel". "Die Welt" urteilte noch etwas schärfer: "Die strickende, geschminkte Frau als ewig gestriges Feindbild." "Die Zeit" zeigte sich belustigt: "Nähen, Kochen, Schminken." Im Text selbst legte Marlen Hobrack in der "Welt" nach, sie schrieb: "Was für eine Frauenverachtung! Um Himmels Willen, wir haben unsere jungen Frauen an die 50er-Jahre verloren!"

Junge Frauen also, die sich in den sozialen Medien wie Instagram und YouTube bewegen, halten nicht viel vom Fortschritt, so die bittere Erkenntnis. Influencerinnen zeigen in langatmigen Beauty-Tutorials, wie sie sich schminken, sie sprechen über ihre Ernährung und führen Mode vor. Besonders bitter wird es, wenn es um Schönheitsideale geht. Erfolgreiche Frauen entsprechen normierten Schönheitsidealen, sie sind dünn und langhaarig. Und dass Frauen heute zum Schönheitschirurgen gehen, weil ihr Gesicht IRL so aussehen soll, wie sie es von ihren Selfies mit Filter von Instagram und Snapchat kennen, ist längst ein Allgemeinplatz.

"Frauen sind umso erfolgreicher, je mehr sie sich an Rollenvorgaben orientieren"

Furtwängler wunderte sich, und mit ihr die deutschen Medien, warum junge Frauen sich in ihrer Selbstdarstellung so einengen. "Es ist eine erstaunliche normierende Macht, die durch die sozialen Medien ausgeübt wird, obwohl diese Plattformen doch per se erst einmal einen völlig freien Raum zur individuellen Selbstinszenierung geboten haben", sagt sie im Interview mit dem "Spiegel". So erstaunlich ist das alles gar nicht. Furtwängler denkt in die richtige Richtung, wenn sie folgert: "Und warum sich die wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen durchgesetzt haben, die eine solche Normierung mit Werbung erzeugen oder befeuern wollen. Frauen sind jedenfalls umso erfolgreicher, je mehr sie sich an den engen Rollenvorgaben orientieren."

Genau, junge Frauen sind erfolgreich, wenn sie dem Bild entsprechen, mit dem Unternehmen ihre Produkte verkaufen wollen. Denn dann werden sie von eben diesen Unternehmen beauftragt, Kleidung und Produkte zu bewerben. Tee, Lippenstift, Diätpillen, Unterwäsche, Handtaschen und und und. Dadurch wiederum werden sie zu Vorbildern für andere junge Frauen, die auch Influencerinnen werden wollen.

Wenn sich junge Frauen für ein nicht-normiertes Schönheitsideal einsetzen, wird es unangenehm, ja, sogar gefährlich. Als die schwedische Künstlerin Arvida Byström im Jahr 2017 im Rahmen einer Adidas-Kampagne ein Foto von sich mit Haaren an den Beinen auf Instagram teilte, war die Empörung groß. Wobei das leicht untertrieben ist, denn ihr wurde mit Vergewaltigung gedroht. Sie wurde wüst beschimpft, 20.000 Kommentare kamen zusammen. Ekelhaft seien die Haare an den Beinen, so die Grundstimmung. Und da wundert man sich, warum Frauen doch lieber lieblich mit Duckface in die Kamera lächeln?

"Ich will niemand sein, der Stereotype bedient"

Das wirkt sich natürlich auch auf die Fotografie aus. Der kanadischen Fotografin Petra Collins wird nachgesagt, dass sie den weiblichen Blick für ihre Generation geprägt hat. "The Female Gaze of Petra Collins" titelte der "New Yorker" schon im Jahr 2016. Ihre Bildsprache ist hyperfeminin und niedlich, ihre Models baden in einer schimmernden Welt voller Pastelltöne. Aber auch hier: Unterwäsche, viel nackte Haut, laszive Posen. Im Interview erzählte sie übrigens, dass sie Vintage Porn Magazine kauft, "Trucking with Dick" beispielsweise, wegen der Farben, das sei ihre Inspiration. In ihren Büchern ("Babe" und "Coming of Age") spricht sie darüber, wie sie zu ihrer Bildsprache gefunden hat. In der Pubertät habe sie durch die Medien, Magazine, Film und Fernsehen, gelernt, dass sie sich als Frau durch ihr Äußeres definieren müsse, um Zuspruch und Aufmerksamkeit von Männern zu bekommen. Und da sie mit eben diesen Bildern aufgewachsen sei, habe sie zuerst einmal diese Bilder reproduziert, also den männlichen Blick.

Den hat im Jahr 1975 die britische Filmkritikerin Laura Mulvey in einem Essay definiert. Im Film geht man von einem männlichen Zuschauer aus. Männer sind aktiv, sie schauen an, Frauen sind passiv, sie werden angeschaut. Der Mann ist der Träger des Blicks, die Frau erträgt den Blick des Mannes. Erträgt die Frau auch noch den Blick des Mannes, wenn sie die Bilder selbst macht?

"ich will niemand sein, der Stereotype bedient"

Mit solchen Fragen möchte sich der deutsche Fotograf Marius Sperlich nicht befassen. Er sei auch schon lange nicht mehr auf den "male gaze" angesprochen worden, sagt er. Sperlich, Ende 20, fotografiert Frauenkörper. Er ist immer sehr sehr nah dran, an Lippen und Brüsten, am Schambereich und an Achselhöhlen. Für den "Playboy" hat er ein Cover fotografiert, Madonna hat vor einigen Jahren eins seiner Bilder geteilt. Auf seinem Account wurde das Foto von Instagram zensiert, bei Madonna blieb es stehen. Laut der Community-Guidelines von Instagram verstoßen Schamhaare im Close-up gegen die Regeln. Viele Schamhaare waren auf dem Foto nicht zu sehen. Der Intimbereich war rasiert, nur ein paar Haare in Form des Nike-Swoosh blieben stehen.

Wenn er Fotos mit Scham- oder Achselhaaren und Menstruationsblut teilt, entfolgen ihn oft tausende Menschen. Sperlich hat über 500.000 Follower auf Instagram, weil seine Bilder regelmäßig im Netz viral gehen und in den Medien darüber berichtet wird. Ihn schmerzen die Unfollows nicht. Ganz im Gegenteil, er fühlt sich dadurch bestätigt. "Ich will niemand sein, der Stereotype bedient", sagt er. "Wenn ich die Leute mit Fotos von Schamhaaren schocken kann, muss ich weitermachen damit."


Sperlichs Bilder sind plakativ und laut, er provoziert bewusst, um Diskussionen anzustoßen. Auf den ersten Blick wirken seine Bilder wie ein einziges Klischee. "Sex sells", der Vorwurf kommt natürlich oft. Brüste, Lippen, Schritt, Brüste, Lippen, Schritt usw. usf. Und dann ist da doch mehr. "I’M SAD", steht in Großbuchstaben auf dem Gesicht einer lachenden Frau. "I'M NOT OKAY EVEN WHEN I SMILE", lautet der Schriftzug auf dem zweiten Bild in der Serie. Psychische Gesundheit, Zensur, Klimaerwärmung und toxische Maskulinität sind die Themen von Sperlich.

Er versteht sich als Internetkünstler, als einen Teil der Meme-Kultur. Er produziert also Fotos, die wie ein Meme funktionieren. Die Bildsprache ist deshalb entsprechend einfach. "Im Internet ist für sehr viele Menschen sehr vieles weird. Besonders Körper triggern Reaktionen." Wenn er ein Foto von einem blutigen Schlüpfer teilt, sind die Kommentare erwartbar: Voll eklig! Manchmal folgt ein zweiter Kommentar oder eine Direktnachricht hinter den Kulissen. "Manchmal wundern die Menschen sich über sich selbst", sagt er. Sie schreiben ihm dann, dass sie sich fragen, warum sie Menstruationsblut oder Schamhaare eklig oder anstößig finden. Sperlich konfrontiert Menschen mit ihren Vorurteilen.

Update für Werte und Ideale

64 Prozent seiner Follower sind übrigens Frauen. Einige sind erstaunt, dass die Fotos von einem Mann sind. Besonders das internationale Publikum, die meisten Follower hat er in den USA und in Brasilien, kann seinen Vornamen nicht einordnen. "Stell Dir vor, Helmut Newton würde heute mit seinen Arbeiten auf Instagram beginnen!“, sagt er. "Er würde vermutlich keinen Fuß auf den Boden bekommen, weil man heute solche Fotos nicht mehr machen kann."

Man kann die Fotos von Sperlich zu plakativ und werblich und die Fotos von Collins zu hyperfeminin und sexy finden. Man könnte aber auch akzeptieren, dass sie mit ihren Fotos Diskussionen über Werte und Ideale anstoßen, die dringend ein Update brauchen.