Wer versucht hat, über Weihnachten in Berlin Postkarten oder gar Briefe zu verschicken und zu empfangen, kann das als äußerst unangenehme Erfahrung verbuchen. Zuerst stand man in den rar gewordenen und völlig überfüllten Postfilialen um Briefmarken an (und nein, die hässlichen Klebchen aus dem Automaten sind keine Alternative, dann kann man die Grüße an die Liebsten auch gleich auf Einzugsermächtigungsbescheide drucken). Dann zog sich das Hoffen und Bangen um die Ankunft der liebevollen Sendungen über Wochen hin, denn die Post inklusive all ihrer prekär ausgestatteten Tochterunternehmen ächzte unter der Last des kollektiven Lockdown-Online-Shoppingwahns. Die letzten der Festtagsbriefchen und -kärtchen ohne verderblichen Inhalt fanden ihr Ziel dann immerhin Mitte Januar. Hätte man mal eine WhatsApp geschrieben (ah nein, der Datenschutz).
Man kann das Ganze aber auch als wohltuendes Abenteuer im durchgetakteten Digitalkommunikations-Alltag der Pandemie-Zeit begreifen. Keine Instant-Lesebestätigung, ein Warten, ohne dass ständig ein Countdown kundtut, wie lang genau es noch dauern wird. In der Ära der Echtzeit kann Verzögerung interessant werden. Wie wenn man nach Wochen in Gaming-Apps plötzlich Lust auf eine Partie Briefschach bekommt (basierend auf einer wahren Begebenheit). Außerdem ist per Hand schreiben sehr gesund.
Nachdem das Image der Post aufgrund von vielbeklagter Unzuverlässigkeit und der Anti-Briefwahl-Propaganda von Ex-US-Präsident Donald Trump in der jüngeren Vergangenheit gelitten hat, entdeckt nun die größtenteils lahmgelegte Kulturbranche das papierne Netzwerk für sich wieder. Dass die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im ersten Lockdown im Frühjahr Postkarten an Seniorinnen und Senioren in Pflegeheimen verschickte, lässt sich vielleicht noch damit erklären, dass diese Zielgruppe nicht unbedingt zu den "Digital Natives" zählt. Doch auch andere Häuser nutzen inzwischen die Mail Art als Kommunikationsform, die aus den endlosen Live-Streams und Videoführungen herausstechen kann. So inszeniert das Nationaltheater Mannheim gerade "Cecils Briefwechsel", im wahrsten Sinne des Wortes ein "Post-Drama", bei dem sich das Publikum per Brief mit einer fiktiven Figur aus einem Theaterstück austauschen kann und so nach und nach eine Geschichte entsteht. Vom Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden kann man sich per Brief Ansichten der anstehenden Ausstellungen schicken lassen, um danach (noch so ein Medium von damals) zum Telefon zu greifen und mit realen Kunstvermittlerinnen über die Arbeiten zu sprechen.
Ein Kunstwerk per Post an alle "Yous"
Auch das Museo d'Arte Moderna im italienischen Bologna verfolgt mit seinem Projekt "Dear You" die Idee eines analogen Kunstsystems für zuhause. Dafür haben sechs Künstlerinnen und Künstler (Hamja Ahsan, Giulia Crispiani, Dora García, Allison Grimaldi Donahue, David Horvitz und Ingo Niermann) jeweils ein Werk geschaffen, das in einen Briefumschlag passt und an alle "Yous" verschickt werden, die sich für ein Abonnement registrieren.
Ob das Lesen von Gedichten, Kurzgeschichten oder Handlungsanweisungen immer eine "transformierende Erfahrung" ist, wie es vom Museum heißt, lässt sich sicher diskutieren. Doch dass verschickte Worte und Bilder einen ganz eigenen Zauber entwickeln können, weiß die Kunst schon lange. Als Erfinder der Mail Art gilt der US-Künstler Ray Johnson, der seit Anfang der 1960er-Jahre mit seiner "New York School of Corresondance" (sic!) einen regen Briefwechsel innerhalb der textaffinen und experimentierfreudigen Konzeptkunstszene initiierte. In der Mail Art lassen sich frühe Formen von verschlüsselten Chatgruppen erkennen und sogar eine analoge Form des Trolling: So wurde in einer zirkulierenden Sendung dazu aufgerufen, ein Post-Kunstwerk so oft wie möglich an Andy Warhol weiterzuschicken.
1970 fand im New Yorker Whitney Museum die erste Gruppenschau zum Thema Mail Art statt. Zu den eifrigen Schreiberinnen und Schreibern der jüngeren Kunstgeschichte gehören unter anderem Ben Vautier, Yoko Ono, Joseph Beuys und Alighiero Boetti. Yves Klein gestaltete eine Briefmarke als Mini-Gemälde in seinem patentierten Knallblau. Und der Künstler On Kawara verschickte In seiner Serie "I Got Up" zwischen 1968 und 1979 jeden Tag zwei Postkarten an Freunde oder Kollegen. Einziger Inhalt: die Absenderadresse (oft Hotels), die Adresse der Empfänger und der Satz "I Got Up At" mit der passenden Uhrzeit. Laut der einzelnen Karten war On Kawara ein flexibler Aufsteher. Die Uhrzeit kann 6.45 Uhr morgens oder 2.05 Uhr nachmittags betragen. Aber sie wurde stets akribisch archiviert. "I Got Up". Das ist schonmal ein nennenswertes Ergebnis eines Tages - zumal, wenn man sich in der zäh dahinfließenden Ereignislosigkeit eines Lockdowns befindet.
Die Mail Art ist nicht totzukriegen
Bei der Mail Art schwingt der Wunsch mit, dass sich Nähe über eine räumliche Distanz transportieren lässt und dass sich das Erlebnis des Reisens stellvertretend in ein Objekt einschreiben kann - in einen Briefbogen oder eine Postkarte, auf denen jede Briefmarke eine Eintrittskarte für die Welt darstellt.
Inzwischen haben sich die Netzwerke natürlich größtenteils digitalisiert. Andy Warhol würde heute Spam-Emails oder WhatsApp-Kettenbriefe bekommen, und zwischenzeitlich gab es sogar einen unautorisierten On-Kawara-Bot bei Twitter. Doch die Mail Art ist überraschenderweise nicht totzukriegen. Ihre Renaissance hat sicher mit der vereinzelnden Pandemie-Lage zu tun. Doch bereits auf der Documenta 14, die bemerkenswert analog an die digitalisierte Gegenwart herantrat, war die Kunst des Verschickens durch Positionen wie Ruth Wolf-Rehfeldt oder Moira Davey präsent - passenderweise in den Räumen der Neuen Hauptpost in Kassel. Auch beim "Dear-You"-Projekt in Bologna zeigt sich, dass sich jüngere Künstlerinnen und Künstler durchaus für das Briefeschreiben erwärmen können. Die Teilnehmenden sind alle in den 1980er-Jahren geboren. Sogar der Social-Media-affine Künstler Aram Bartholl druckte im vergangenen Jahr Postkarten von dunklen Rauchschwaden über dem Berliner Humboldtforum und präsentierte sie in Touristenshop-Optik in Drehständern. Hier wird der meist belanglose Gruß aus der Hauptstadt zum Statement gegen das millionenschwere kulturelle Vorzeigeprojekt.
Für Kulturinstitutionen könnte die Post-Kunst auch ein Weg sein, sich zumindest ab und zu von den digitalen Plattformen zu emanzipieren, die wegen ihrer Datenkrakigkeit von einigen Häusern eher zähneknirschend genutzt werden. Allerdings müsste dann konsequenterweise auch über die oft prekären Arbeitsverhältnisse von Postbediensteten und Paketdienstleistern gesprochen werden. Wenn sich die Mail Art jetzt noch mit der Performance-Kunst á la Tino Sehgal verschwestert, dürfen wir demnächst mit singenden Postboten an der Wohnungstür rechnen. Zuhause ist man ja eh. Und crossmedial wäre es auch.
P.S. Schreib bald!