Kunst-Start-up Mӕ

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Eine Mischung aus Kunst-Tinder und BeReal: Das Berliner Start-up Mӕ will mit einer App Kreative zusammenbringen und die Scheu vor der oft elitären Kunstwelt nehmen. Eine Begegnung mit Co-Gründer Pasquale Marino

Pasquale Marino sitzt im Erdgeschoss eines Gebäudes, bei dem Inneres und Äußeres kaum unterschiedlicher sein könnten. Die moderne Glasfassade des Eckblocks lässt einen Bürokomplex wie jeden anderen in Berlin-Mitte vermuten. Doch wer eintritt, wurde zumindest für einige Tage eines Besseren belehrt. Denn der unfertige Trockenbau fand sich zwischenzeitlich in eine Pop-up-Kunstgalerie verwandelt. Zwischen 30-Kilo-Säcken Putzmörtel und Baustrahlern hängen hier große bunte Farbflächen, von der Decke baumeln kinetische Steinskulpturen. Im Keller wartet eine auf Minus 17 Grad gekühlte Vitrine, in der ein aus Industriemargarine geformter Männerakt schlummert. 

Die Veranstaltung ist nur eine von vielen, die das Start-up Mӕ derzeit in Berlin auf die Beine stellt. Hinter den drei ineinander verschlungenen Buchstaben, die dem Namen einer etruskischen Gottheit entsprechen, stecken vier junge Italienerinnen und Italiener. Während der Corona-Pandemie gründete der heute 30-jährige Pasquale Marino mit seinem Bruder Mattia eine Plattform namens Maecenarte ("Mäzenenkunst"), auf der Geldgeberinnen und -geber aufstrebende Künstlerinnen und Künstler durch monatliche Stipendien unterstützen konnten und im Gegenzug dafür einige der Werke als Leihgabe erhielten.

Trotz des Hypes um NFTs und digitale Kunst entschied sich Marino bewusst dafür, an greifbaren Werken festzuhalten. "Der physische und soziale Aspekt ist für mich unersetzbar", beschreibt er seine Philosophie. Rein virtuelle Angebote könnten diese sozialen Bedürfnisse hingegen nie stillen: "Ich sehe die Kunst selbst als ein Kommunikationsmittel, um Gefühle und Gedanken zu teilen."

Vom Symposium zur Galerie

Ein solcher Ideenaustausch steht auch im Vordergrund von Mӕs gleichnamiger App, die sich 2022 aus Maecenarte entwickelte. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein soziales Netzwerk für Kunstfans. Jeder kann mit wenigen Klicks Fotos seiner Werke hochladen und diese für die Community zum Kommentieren freigeben. Symposium nennt sich dieses freie Assoziieren entlang selbstgeschaffener Kollektionen. 

Wer genug kommentiert, bekommt eine KI-generierte Auswertung der eigenen Präferenzen und wird mit Nutzerinnen und Nutzern verknüpft, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Das Ganze fühlt sich ein bisschen wie eine Mischung aus BeReal und Kunst-Tinder an. Und ähnlich wie beim Daten wird das ganze erst dann wirklich mit Leben erfüllt, wenn aus Online-Interaktionen reale Begegnungen werden. 

Deshalb finden beinahe jede Woche vom Mӕ-Team ausgerichtete Veranstaltungen statt, denen man über die App beitreten kann. Diese reichen von Galerie- und Atelierbesuchen in Kleingruppen über Maskenbastel-Workshops bis hin zu ausgedehnten Abendessen mit künstlerischer Begleitung. Die Formate sind zumeist sehr offen gehalten, um die Hemmschwelle zu senken und Interessierte leichter in Austausch miteinander zu bringen. Laut Marino sind viele der Nutzer "kreative Expats zwischen 25 und 35 auf der Suche nach Gleichgesinnten". Die App soll als sicheres Umfeld dienen, um tiefer in die Kunstwelt eintauchen und das Erlebte vorurteilsfrei miteinander diskutieren zu können.


Ein solcher Anlass des Zusammenkommens war die Ausstellung “Le Grand Divertissement” in der Galerie Kwadrat. Der schmale Raum inmitten der Kreuzberger Bechstein-Höfe wurde einst als Pferdestall genutzt und verfiel lange Zeit, ehe Galerist Martin Kwade ihn zum architektonisch unkonventionellen Kunstort herrichtete. Unter dem Deckmantel der "Vergnügung" präsentierten sich hier selbstironische Malereien von Philipp Stähle neben Daniel Brägs Kirschblüten in Gelatine, die nach und nach durch Pilzbefall aufgefressen werden. Die kreativen Übergänge zwischen Spaß und Vergänglichkeit sind fließend.

Die Zusammenarbeit mit Mӕ verspricht den Galeristen und Künstlerinnen mehr Aufmerksamkeit und einen Teil der Veranstaltungseinnahmen. Das Start-up selbst finanziert sich durch Ticketerlöse von Events, den Verkauf von Kunstwerken und ein Abomodell für professionelle Nutzerinnen und Nutzer. Hinzu kommt eine Anschubfinanzierung durch externe Investoren. Kwade war einer der ersten Galeristen, der sich dem Kreativnetzwerk anschloss. Dank der gemeinsamen Events habe das Publikum für seine Vernissagen merklich zugenommen. "Das sind nicht unbedingt Käufer, sondern einfach junge kunstinteressierte Leute – und das freut mich", so Kwade.

Mittlerweile arbeitet Pasquale Marinos Team, dem neben Bruder Mattia noch die beiden Italienerinnen Sissy Rosa und Egle Trovato angehören, nach eigenen Angaben mit mehr als 700 Kunstschaffenden, Galeristen und Institutionen zusammen, darunter das Kunstquartier Bethanien in Kreuzberg und die Mahalla in Schöneweide. Die App zähle derzeit über 5000 aktive Nutzerinnen und Nutzer. Langfristig soll sie auch in anderen europäischen Kunstmetropolen wie Paris, Mailand, Barcelona und Wien angeboten werden. 

Kunst ins tägliche Leben einbauen

Den Vorrang habe zunächst jedoch der Aufbau der Berliner Community. Derzeit würden beispielsweise mehr Partnerschaften mit lokalen Festivals und Clubs angestrebt, die Kunstworkshops in ihr Programm integrieren wollen. Auch für die Berlin Art Week sind Zusammenarbeiten geplant, um die eigene Präsenz zu erhöhen.

Pasquale Marinos persönlicher Wunsch als Gründer des sozialen Netzwerks ist dabei, gemessen an seinen Ambitionen, verblüffend simpel: "Wir wollen alle dazu ermutigen, Kunst in ihr tägliches Leben einzubauen." Eine Abwechslung zum Swipen auf Tinder und Scrollen auf Instagram wäre es allemal.