Die wohl eindrücklichsten Begegnungen mit Kunst sind diejenigen, bei denen Werke Gefühle aufgreifen, von denen man nur vage ahnte, dass man sie hat. Zuletzt passierte mir das bei den Bildern von Louise Bonnet, deren Ausstellung "Sphinxes" zurzeit in der Baseler Dependance der Gagosian Gallery zu sehen ist. Ihre Farbstift-Zeichnungen zeigen seltsame Gestalten, die auf den ersten Blick eine ganz andere Wirkung ausstrahlen als die geheimnisvollen Fabelwesen, nach denen die Ausstellung benannt ist.
In der griechischen Mythologie waren die Sphinxe Mischwesen aus Löwinnen und Frauen, zerstörerische Dämoninnen, die den Menschen, die ihren Weg kreuzten, Rätsel stellten und sie bei einer falschen Antwort töteten. Im alten Ägypten findet man sie hingegen oft, wie sie als Verschmelzung von Tier und Pharao mächtige Tempel bewachen. So hat sich im Laufe der Zeit die Wirkung der Sphinxe irgendwo in dieser verführerischen Mischung aus Schutz und Gefahr eingependelt.
Die verformten Körper aus Bonnets Bilduniversum haben zwar nichts von deren geheimnisvoller Anmut, doch ihre Kompositionen inszenieren sie auf ähnlich hoheitsvolle Weise. Die Figuren sind allesamt in eine reduzierte Umgebung eingebettet, knien auf Podesten, sitzen und fläzen sich auf Kuben. Sie sind immer allein, und ihre Isolation strahlt eine unangestrengte Eleganz aus; unwirklich und fesselnd ästhetisch. Doch sobald man sich ihrer Anziehung hingibt, schiebt die Lächerlichkeit ihrer ganzen Erscheinung dem Entzücken einen Riegel vor. Ihre gekräuselten Zehen bohren sich peinlich berührt in die eigenen, wurstigen Pobacken, ihr Fleisch wirkt unangenehm weich, aus himbeerförmigen Brustwarzen schießt Flüssigkeit, und die blonde Frisur anstelle ihrer Köpfe nimmt ihnen jede Anmut. Man weiß nicht, ob man diese unbeholfenen Wesen in den Arm nehmen oder tunlichst meiden sollte. Was bleibt, ist das süße Unbehagen inmitten dieser Ambivalenz.
Diese pure Essenz von Unbeholfenheit
Die Werke an der Wand beherrschten die gesamte Stimmung in der Galerie. Draußen schien die heiße Mittagssonne, es war endlich für ein paar Tage Sommer in Basel geworden, und die Trams vor der Tür klingelten sich freundlich ihren Weg über den belebten Platz unweit des Rheins frei. Doch in den Galerieräumen herrschten die Sphinxe über ihre ganz eigene, schwerelose Welt. Und obwohl mir solche Figuren wie die von Bonnet fremd waren, war es kein unbekanntes Gefühl, das mich da befiel.
Diese pure Essenz von Unbeholfenheit hatte bereits die letzten Wochen bestimmt, denn jede soziale Interaktion war von ihr gezeichnet. Nach Monaten des Lockdowns war endlich das öffentliche Leben zurückgekehrt, doch die kleinen Interaktionen des Alltags, auf die wir so lange verzichten mussten – vom Bestellen eines Kaffees bis hin zum Smalltalk mit entfernten Bekannten –, waren ein einziges verunglücktes Rollenspiel. Man erinnerte sich immerhin noch an den richtigen Text, nur fehlte einfach die Routine, um das Ganze natürlich wirken zu lassen. All das social distancing hatte dazu geführt, dass wir socially awkward durch die neu gewonnene Freiheit staksten. Schrecklich zum Zuschauen - schrecklich, Teil davon zu sein. Und diese quietschrosa unproportionierten Körper brachten es auf den Punkt.
"Die angsteinflößenden Dinge wie Wut und Tod einfrieren, damit man sie von außen betrachten kann": So beschreibt die Künstlerin ihre Praxis in einem Gespräch mit der Filmemacherin und Autorin Miranda July. Obwohl die beiden Nachbarinnen sind, fand das Interview über einen Videocall statt, und an einigen Stellen dringt die Lockdown-Realität von Los Angeles durch, wo sie wohnen.
Die Sphinxe sind eindeutig ein wenig schrullig geworden
Die ausgestellte Reihe von Farbstift-Zeichnungen unterscheidet sich von Bonnets bisherigen Arbeiten. Nicht nur, weil sie sonst in Öl gemalt und meist großflächige Arbeiten produziert hat, sondern vor allem, weil die Wesen in den Bildern verbundener mit der Welt schienen. Sie waren in häusliche Szenen eingebunden: sie hielten Gläser in der Hand, wurden vom Licht einer Glühbirne beschienen, versteckten sich unter einer Decke und waren viel näher an der Comic-Ästhetik, die Bonnet zu ihren Einflüssen zählt. Die neuen Sphinxe sind entrückt und abgekapselt, ohne Hoffnung auf rettende Gesellschaft und sind dadurch eindeutig ein wenig schrullig geworden.
In Zeiten, in denen es schwierig ist, Worte für etwas zu finden, schafft es die Kunst, Dinge auf einer anderen Ebene zu vermitteln. In der Beschreibung der "Sphinxes"-Ausstellung heißt es, Bonnet würde die Symbolik der mythischen Figur durch die Brille von zeitgenössischen Konzepten beleuchten. Doch es ist mehr als das. Diese nicht-menschlichen Wesen verkörpern das allzu menschliche Lebensgefühl, das sich während der letzten Monate zum unbeholfenen Normalzustand ausgeweitet hat und das nun mit jedem Schritt hin zu einer sozialen Wiederbelebung ans Licht kommt.
Bonnets Figuren zitieren nicht einfach alte Mythen, sie schaffen neue; solche, die uns im Hier und Jetzt zur Seite stehen und alles ein bisschen erträglicher machen. Um es mit den Worten der Künstlerin zu sagen: "Das Gefühl nimmt nicht wirklich Form an, wenn man nicht darüber lachen kann, oder?"