Fotografin Libuše Jarcovjáková

"Ich verstecke und zensiere nichts"

Ein Kinofilm und eine Berliner Ausstellung feiern das Werk der tschechischen Fotografin Libuše Jarcovjáková, die seit Jahrzehnten ihr Umfeld in intimen Bildern einfängt. Ein Gespräch über Freiheit, Mutterschaft und Identität im Fluss

Prag, 1968: Die junge Libuše Jarcovjáková hält mit ihrer Kamera fest, was im sozialistischen Regime keinen Platz hat: die Erschöpfung der Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Druckerei, das flirrende Nachtleben in verrauchten Kneipen, Rausch und Nacktheit. Ihre Momentaufnahmen erzählen von dem Verlangen, das Leben nach den eigenen Regeln zu leben – roh und ungeschönt. Als Akt der Freiheit.

Die Regisseurin Klára Tasovská hat aus Jarcovjákovás Fotos und Tagebüchern den Film "Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte" montiert - ein poetisches Porträt über Kunst, Identität und Widerstand, das sechs Jahrzehnte umspannt, von der unterdrückenden ČSSR über das West-Berlin der 80er-Jahre, Japan und zurück ins Prag der eigenständigen Tschechischen Republik. Wir haben mit der heute 72-jährigen Fotokünstlerin gesprochen. 
 

Libuše Jarcovjáková, als 16-Jährige wollten sie bereits Fotografin werden. Nach mehreren Absagen erhielten Sie die lang ersehnte Zusage für Ihr Studium. Verkaufen ließ sich ihre Fotografie erst spät. Schlecht bezahlte Nebentätigkeiten wie Zimmermädchen oder Reinigungskraft brachten sie finanziell über die Runden. Stets fotografierten Sie, trotz zahlreicher Umbrüche. Was fasziniert Sie so an diesem Akt? 

Am Fotografieren gefällt mir die Verbindung mit Menschen, das Hineinfühlen in fremde Geschichten und als Person Teil der Geschichte zu werden. Als junges Mädchen stand ich zudem unter dem Einfluss des berühmten tschechischen klassischen Fotografen Josef Sudek. Ebenso bewunderte ich die Fotos von Josef Koudelka, insbesondere seine Aufnahmen des Prager Theaters Divadlo Za branou aus den 1960er-Jahren. Ich erinnere mich, wie ich vor den Schaufenstern des Theaters stand, wo seine Bilder ausgestellt waren - diese Fotografien hatten eine große Anziehungskraft auf mich. Meine Eltern waren zudem Malerin und Maler, sodass ich von klein auf mit bildender Kunst in Berührung kam. Doch ich wollte nicht in ihre Fußstapfen treten. Stattdessen suchte ich nach meinem eigenen Medium, nach einer Ausdrucksform, die nur mir gehörte. 

Warum fotografieren Sie hauptsächlich in Schwarz-Weiß?

Im Prag der 1960er- und 70er-Jahre war Schwarz-Weiß-Fotografie die Tradition - so wurde es mir beigebracht, und so habe ich die Welt gesehen. Zudem war es damals nicht einfach, an Farbfilme zu kommen. Falls es sie überhaupt gab, waren sie von schlechter Qualität aus Ostdeutschland, und ich musste sie zum Entwickeln einschicken. Das kam für mich nicht infrage. Ich wollte meine Fotos nicht irgendwohin schicken und auf ein Ergebnis warten, über das ich keine Kontrolle hatte. Stattdessen arbeitete ich mit Schwarz-Weiß-Negativen, die ich selbst entwickeln konnte. Dieser Prozess war mir wichtig. Ich wollte jeden Schritt selbst in der Hand haben, von der Aufnahme bis zur fertigen Fotografie. Später habe ich gelegentlich mit Farbe experimentiert, aber mein Werk besteht zu etwa 80 Prozent aus Schwarz-Weiß-Bildern.

Der Dokumentarfilm der Regisseurin Klara Tasovská "Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte", der jetzt ins Kino kommt, ist sehr persönlich. Er fußt nicht nur auf Ihrem Fotoarchiv, sondern auch auf Ihren Tagebucheinträgen, die Sie als Tonspur einsprechen. Korrespondiert dieser subjektive Ansatz mit Ihrem intimen Stil, Fotos zu schießen?  

In gewisser Weise schon. Ich habe in meinem Œuvre bewusst entschieden, nichts zu zensieren und nichts zu verstecken. Für mich ist mein Werk nicht nur Ausdruck meines Egos, sondern etwas Universelles - etwas, das für viele Generationen und Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt relevant sein kann. Würde ich anfangen, einzelne Dinge auszuklammern oder zu verändern, würde ich etwas Konstruiertes erschaffen. Doch ich will, dass meine Arbeit so authentisch wie möglich bleibt. Deshalb musste ich einen klaren Entschluss fassen: Entweder alles zeigen oder gar nichts. Ich wollte nicht bei jedem Bild neu abwägen, was ich preisgebe. Manchmal ist das schwierig, manchmal nicht. Es ergibt keinen Sinn für mich, es anders zu machen.

In Tokio gelang Ihnen 1986 der Durchbruch als Modefotografin. Aber das war nicht das Leben, das Sie leben wollten. Warum entschieden Sie sich gegen die Modefotografie? 

Modefotografie war nicht meine Welt. Schon in den 80er-Jahren war die Branche voller Verstellung, Snobismus und Machtspielchen – das hat mich nicht interessiert.  Was ich mochte, waren die kleinen, intimen Porträtshootings für Magazine, etwa mit der japanischen Modedesignerin Rei Kawakubo oder anderen Personen im Rahmen von Interviews. In großen Studios, umgeben von Technik und Assistentinnen und Assistenten, fühlte ich mich verloren. 

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe diese Arbeit durchgezogen, aber es hat mir viel Kraft abverlangt. Dazu kamen die Visa-Probleme. Nach acht Monaten in Tokio hätte ich ein professionelles Visum gebraucht, und der bürokratische Aufwand war zu groß. Außerdem hatte ich Heimweh nach der europäischen Kultur. Japan war faszinierend, aber auf Dauer kein Ort, an dem ich mich wirklich zugehörig fühlte. Die Gesellschaft war in vielerlei Hinsicht chauvinistisch. Als ich zurück nach Berlin kam, arbeitete ich zunächst als Zimmermädchen in einem Hotel. Tokio verließ ich nach einem High-Society-Shooting. Größer hätte der Unterschied kaum sein können.

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 suchten Sie mithilfe von Fotos Freiräume in der repressiven tschechoslowakischen Gesellschaft. Sie arbeiteten nachts in einer Druckerei und fotografierten die dort Arbeitenden am Rande der Illegalität. Auch im queeren Prager T-Club hielten Sie Partygäste im Exzess fest. Wie war es, mit der Gefahr zu leben, durch Ihre Fotos in Schwierigkeiten zu geraten? 

Glücklicherweise hatte ich keine Angst, denn ich konnte wenig verlieren. Hätte ich mich in die Enge treiben lassen, gäbe es heute keines meiner Fotos. Ich wollte nichts vom Staat - keine Wohnung, keinen guten Job, kein Geld. Das gab mir Unabhängigkeit und eine Außenseiterposition. Viele meiner Schulkameraden kollaborierten, um Vorteile zu erhalten, ich aber bekam nichts und gab nichts zurück. Bis 1985 lebte ich bewusst in Freiheit, dann wollte ich aus dem System raus. Durch eine Scheinehe mit einem Westdeutschen konnte ich nach West-Berlin ausreisen, arbeiten und mir dort etwas aufbauen - mit dem Ziel, nach Prag zurückzukehren. Nach dem Mauerfall war plötzlich alles möglich: Freiheit, Liebe, neue Chancen. Ich begann zu unterrichten, musste keine Niedriglohnjobs mehr machen und wurde 1992 Abteilungsleiterin in der nun eigenständigen Tschechischen Republik.

In einem Tagebucheintrag schreiben Sie, dass Sie ein Foto in der dokumentarischen Tradition von Cartier-Bresson schießen könnten, aber dass das für Sie nicht interessant sei. Denn "ein Level an Subjektivität wird immer das Erstrebenswerteste" für Sie sein. Auch technisch zeigen Ihre Fotos weniger Präzision, sondern erlauben Imperfektion. Wie schaffen Sie es, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, die Sie fotografieren?

Ich denke, ich habe eine Gabe, empathisch zu sein. Für mich war es nie ein Problem, Menschen nahezukommen und ihnen das Gefühl zu geben, dass ich nicht nur da bin, um ihre Geschichten und Gesichter zu stehlen. Meistens kann ich nur Motive fotografieren, die ich gut kenne. Im T-Club bereitete ich mich acht Monate vor, war mit meiner Kamera dort und machte erst Fotos, als die Gäste es wünschten. Ich muss eine Verbindung zu den Personen haben, die ich fotografiere. Mit ihnen sprechen und fühlen und selbst Teil der Geschichte werden. Auch in der Prager Druckerei, in der ich arbeitete, brauchte ich ein Jahr, bevor ich Fotos machen konnte. Damals hatte ich zudem keinen kommerziellen Druck. Ich drängte nicht darauf, meine Fotos zu verkaufen. Manche meiner Bilder warteten 60 Jahre, bis sie entdeckt wurden. 

Sie thematisieren mit Ihren Fotos auch den Druck, den das Thema Mutterschaft für Frauen auslöst, da in der Gesellschaft enge Rollenerwartungen damit verknüpft sind. Einen zweiten Schwangerschaftsabbruch überlebten Sie nur knapp. Sie mussten ihn heimlich durchführen lassen, weil Ihnen der Abtreibungsausschuss nicht noch einmal helfen wollten. Sehen Sie heute in Tschechien andere Rollenzwänge für Mütter als im tschechoslowakischen Prag in den 1960er- und 70er-Jahren?

Mir wurde die zweite Abtreibung mit den Worten verboten: "Du bist jung und fortschrittlich, du musst Mutter werden." Doch ich wollte keine Kinder, da ich den Zwang des Regimes nicht weitergeben wollte. Entscheidungen waren nicht frei - eine extreme Einschränkung meines Lebensentwurfs. Gesellschaftliche Strukturen fördern eine sexistische Rollenverteilung, sobald eine Frau Mutter wird. Ich sah es bei meiner Mutter, einer talentierten Malerin, die ihre Karriere für die Familie opfern musste, während mein Vater Künstler blieb. Er konnte emotional nicht begreifen, was es für sie heißt, ihren eigenen beruflichen Traum nicht mehr leben zu können. Ihr beruflicher Verzicht machte sie unzufrieden. Bis heute unterbrechen viele Künstlerinnen nach der Geburt ihre Karriere für Jahrzehnte oder kehren gar nicht zurück. Unterstützung durch Partner oder Familie erhalten sie selten. Konservative Rollenerwartungen bestehen weiter. Dieses Problem existiert bis heute.

Mit Blick auf den Titel Ihres Filmporträts: Sind Sie heute jemand, der Sie sein möchten?     

Zum Glück noch nicht. Meine Identität befindet sich immer noch im Fluss und ich bin zufrieden. Fertig ist also noch lange nichts.