Die kleine Einkaufspassage des an den Tiergarten angrenzenden Berliner Hansaviertels mit seinen Hochhäusern aus den späten 1950er-Jahren hat ihre beste Zeit offenbar schon hinter sich. Der Großteil der Läden steht leer. Die hell gekachelten Flachbauten wirken trist und kühl. Ein paar Geschäfte gibt es, darunter eine Shisha-Bar, eine Apotheke, einen Rewe City – sowie das Grips-Theater. Und seit Januar nun auch einen Kunstraum.
Gegenüber von Weinbar und Späti hat die Kuratorin Leonie Herweg ihren neuen Ort für Kunst namens Grotto eröffnet. Durch die riesige Glasfront kann man auch von außen die gesamte kleine Ausstellungsfläche überblicken. Aktuell läuft dort noch bis 6. Juni unter dem Titel "Petite maison (divorced from function)" eine Einzelausstellung von Antonia Nannt. Mit Grotto möchte Herweg die Architektur ihres Lieblingsviertels beleben - und nicht nur ein hippes, kunstinteressiertes Publikum ins Hansaviertel locken, sondern auch die älteren Bewohnerinnen und -bewohner einbeziehen, indem sie Lesungen und Veranstaltungen in der nahegelegenen Hansabibliothek organisiert.
Der Kuratorin ist mit ihren gerade mal 27 Jahren schon mit ihrer ersten Ausstellung im Hansaviertel etwas Besonderes gelungen – oder wie RBB Kultur es im Februar in einem Fernsehbeitrag formulierte: "ein Coup". Genau genommen hat sich Herweg den neuen Ort für ihren Kunstraum nämlich erstmal unterirdisch angeeignet, indem sie die U-Bahnstation Hansaplatz den Januar über mit einer Ausstellung bespielte. So hatte Herweg schon einen Monat, bevor sie mit ihrem Projekt an die Oberfläche kam und den Raum im Hansaviertel offiziell eröffnete, das ganze Hauptstadtfeuilleton auf ihrer Seite.
Vernissage im U-Bahnhof
Diese Schau trug den Titel "16 Hintergleisflächen" und zeigte in der U-Bahnstation Hansaplatz dort, wo sonst riesige Werbebanner hängen, großformatige Arbeiten von Stefan Marx. Während man auf die U9 wartete, konnte man für den Berliner Künstler typischen Sätze in Schwarz auf Weiß: "The sun goes down alone" oder "Adieu wrong plans". Nicht nur die Kunstkritik war angetan, auch zur ersten Vernissage im Bahnhof kamen – die zufällig Vorbeifahrenden mal ausgenommen – mehrere hundert Leute.
Vier Monate später sitzt Herweg an einem warmen Tag Anfang Mai auf der extrabreiten Fensterbank in ihrem Kunstraum Grotto, die Tür steht offen. Sie trägt weite, weiße Kleidung, zierliche dunkelbraune Loafer und wirkt entspannt. So, als würde sie in ihrem Wohnzimmer sitzen. Seit dem U-Bahnhof sind bereits zwei weitere Ausstellungen gelaufen, die aktuelle mit Antonia Nannt ist die dritte, die im Raum selbst zu sehen ist.
Die Schau mit Daniel Moldoveanu, die dort zuletzt zu sehen war, wurde lobend bei "Artforum" rezensiert, und irgendwie scheint Herweg den Dreh raus zu haben, wie man mal eben – neben der eigentlichen Arbeit in Vollzeit – einen Kunstraum eröffnet. Und das an einem Ort, an dem sich im wahrsten Sinne des Wortes Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Es braucht nämlich gar nicht viel Glück, um diese Tiere im grünen Hansaviertel herumrennen zu sehen.
"Die Kunst war immer da"
Herweg ist mit ihrem alten, roten Klapprad gekommen, denn weit hat sie es nicht. Sie wohnt direkt um die Ecke, in der Giraffe, so heißt das Gebäude in der Klopstockstraße, das von den Architekten Müller-Rehm und Siegmann im Rahmen der Bauausstellung Interbau Ende der 1950er-Jahre entworfen wurde. Im Zuge dieser Initiative wurde das gesamte Hansaviertel gebaut.
Herweg arbeitet als Assistentin der Geschäftsführung im Auktionshaus Grisebach. "Seit März nicht mehr in Vollzeit, sondern nur noch vier Tage die Woche." Was sich, wie sie berichtet, richtig gut anfühlt. "Vorher war ich eher eine arbeitende Person, die ein professionelles Hobby hat und jetzt sind Grisebach und mein eigenes Projekt gleichwertiger." Grotto war aber auch schon vorher Dreh- und Angelpunkt ihres Alltags. "Meistens bin ich vor der Arbeit hier, in der Mittagspause und auch nach der Arbeit oft."
Herweg ist in Frankfurt geboren und mit elf Jahren mit ihren Eltern – die Mutter Architektin, der Vater Chirurg – in die Schweiz gezogen. Nach dem Abitur absolvierte sie einige Praktika in Galerien, studierte dann aber nicht Kunstgeschichte, sondern Jura und internationale Beziehungen in Genf. "Die Kunst war immer da, aber ich wollte mich nicht so auf eine Linie festlegen. Das Studium war für mich eher eine Vertiefung der Allgemeinbildung."
"Zwei Herzen in der Brust"
Neben der Uni arbeitete sie fünf Jahre in einer Galerie für zeitgenössische Kunst, wohnte sogar im selben Haus. "Vielleicht kann man von zwei Herzen in einer Brust sprechen." Wenn man Herweg fragt, wie sie zur Kunst gekommen ist, dann berichtet sie von einer ausschlaggebenden Begegnung mit einem Buch: "Wir haben meine Urgroßmutter in der Reha besucht, und im Bücherladen nebenan lag so ein Schinken über den Barock. Ich habe es durchgeblättert, und da war eine Abbildung eines Gemäldes von Artemisia Gentileschi, wie Judith Holofernes den Kopf abschneidet. Ich weiß nicht, was es war – die starke Frau, die Brutalität, das Chiaroscuro –, aber seitdem bin ich hooked."
Wenn Herweg über die Werke in ihrer aktuellen Ausstellung mit Antonia Nannt spricht, dann merkt man, dass sie immer noch von den starken Frauen gefesselt ist, die Kunst machen. Aber auch, dass sie die Schau bestimmt nicht das erste Mal erklärt, sondern sich über die vielen Male schon ein gutes Repertoire an Formulierungen zurechtgelegt hat.
Die Metallarbeiten in der Mitte des Raums sehen aus wie kleine runde Tische mit bodenlangen Rüschen. Diese Verzierungen nennen sich Table Skirts – Röcke für Tische sozusagen – und "Table Skirts” nennt die Künstlerin auch ihre Werkreihe. Nannt, Jahrgang 1995 und seit drei Jahren Absolventin an der Universität der Künste in der Klasse von Manfred Pernice, arbeitete für die Ausstellung ausgehend von dem Buch "La Petite Maison" von Jean-François de Bastide aus dem Jahr 1879. Dabei handelt es sich um ein sehr ungewöhnliches Genre, nämlich eine Mischung aus erotischer Novelle und architektonischer Abhandlung.
Frauen wohnen anders als Männer
Dem Autor geht es darum, seiner Leserinnenschaft Architektur und Inneneinrichtung über eine Liebesgeschichte zugänglich zu machen, die sich dann tatsächlich irgendwann nur noch um die Möbel dreht. Die ellenlangen, "verführerischen” Beschreibungen über Teppiche und Schränke inspirierten Nannt zu einer Auseinandersetzung mit den Themen Interieur und Weiblichkeit, Funktionalität und Dekoration.
Herweg erzählt, dass Nannt für die Arbeiten in der Metallwerkstatt stundenlang mit Flammenwerfer und Hammer gearbeitet hat, manche der Arbeiten hat sie auch unter großem Kraftaufwand kalt gebogen. "Dabei hat sie versucht, das Metall wie Stoff aussehen zu lassen." Der Kontrast zwischen dem kühlen, glatten Metall und den traditionell weiblich konnotierten, dekorativen Rüschen ist tatsächlich eindrücklich. Im Kontext des Hansaviertels ist eine Ausstellung zu Interieur und Weiblichkeit auch insofern spannend, als dass das Viertel selbst nur von männlichen Architekten geplant und gebaut worden ist.
In dem Gebäude, in dem Leonie Herweg selbst wohnt, gibt es Wohnungen für Frauen und Wohnungen für Männer. Die Apartments im Westtrakt wurden als "männlicher Typ" geplant; sie haben dreiteilige, raumhohe Fenster und nur einen Kochschrank. Im Osttrakt liegen die Einheit "weiblichen Typs" mit kleiner Küche und zweiteiligen Fenstertüren. Herweg selbst lebt zusammen mit ihrem Freund im Westtrakt, sie haben also nur eine kleine Kochnische. Für sie reicht das aber völlig. "Wir haben nicht viel. Drei Stühle, einen Tisch, ein Bett. Und auf dem Balkon schaut man direkt ins Grüne." Solch ein geschlechterspezifisches Bauen kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber die Dominanz des männlichen Blicks prägt das Wohnen, nicht nur im Hansaviertel, bis heute.
Man kann kaufen, eine Galerie soll es aber nicht sein
Grotto, so wirkt es im Gespräch, bedeutet für Herweg keine sonderliche Anstrengung, sondern ist ein Ventil für einen Teil ihrer Persönlichkeit. Die Arbeit bei Grisebach macht ihr zwar Freude, sie schult ihr Auge, wie sie erzählt, aber es sei schon ein "Elfenbeinturm". Das Elitäre versucht sie mit Grotto herunterzubrechen. Die Werke, die Herweg ausstellt, kann man zwar kaufen, der Verkauf steht aber nicht im Vordergrund. Deshalb spricht Herweg auch nicht von einer "Galerie", sondern eher von einem Kunstraum, einer Initiative oder einem Projekt.
Neben den Ausstellungen und Lesungen plant Herweg für September eine Kunstbuchmesse, denn Grotto soll zusätzlich auch zum Buchladen und Verlag werden. Ihre festen Öffnungszeiten – Mittwoch, Freitag und Samstag von 14 bis 17 Uhr – beschreibt Herweg auch als "Sprechstunden". Sie sind ihr wichtig, denn auch wenn der Ansatz eher der eines Projektraums ist, möchte sie nicht nur auf Abruf zur Verfügung stehen.
Die Hürde, den Raum zu betreten, will Herweg möglichst klein halten. Grotto ist, wie sie sagt, ein "Angebot" und ein bisschen auch ein "Communityservice". Wenn der Raum geschlossen ist, kann man sich trotzdem informieren, was los ist, weil Herweg den Ausstellungstext laminiert von außen an die Tür gehängt hat. Die Ausstellung ist durch die Glasfront sowieso gut sichtbar. Nachts lässt sie meistens das Licht an, so können auch spät Flanierende in Ruhe schauen.
Die Liebe zum Hansaviertel kam durch den Großonkel
Dass Herweg eine gute Gastgeberin ist, und es schafft, auch die älteren Bewohnerinnen und Bewohner des Hansaviertels in ihren Raum oder zu den Lesungen in die Bibliothek zu locken, nimmt man ihr ab. Während wir im Raum sitzen, kommen immer mal wieder Leute vorbei, denen Herweg durch das Fenster zuwinkt. "Man kann auch nur auf einen Kaffee vorbeikommen, und wenn man mir schreibt, mache ich auch gern einfach mal nur für eine Person auf." Zum diesjährigen Projectspace-Festival kulminiert dieser Ansatz in einer 24-Stunden-Aktion, während der Herweg statt Kunstwerken eine Softeismaschine in den Raum stellen wird, an dem dann Künstlerinnen und Kulturschaffende Eis ausgeben und mit denen, die wollen, ein Schwätzchen halten.
Bevor Herweg vor anderthalb Jahren ins Hansaviertel zog, lebte sie (nach einem kurzen Zwischenstopp in Kairo am Goethe-Institut), in Frankfurt am Main und arbeitete dort kurzzeitig als kuratorische Assistentin für Susanne Pfeffer am Museum für Moderne Kunst. Kennengelernt hat sie das Hansaviertel durch ihren Großonkel Klaus. "Klaus ist mit 80 von Bremen nach Berlin gezogen, weil er noch was erleben wollte." Er wohnt am Hansaplatz, in dem von Luciano Baldessari entworfenen Haus.
"Durch die Besuche bei ihm habe ich das Viertel kennen und lieben gelernt." Bei der Wohnungssuche von Frankfurt aus entdeckte sie dann tatsächlich ein 1-Zimmer-Apartment in der von ihr favorisierten Lage. Schlechte Aufnahmen und die Renovierungsbedürftigkeit der Wohnung machten es Herweg trotz des angespannten Berliner Mietmarkts leicht, den Vertrag für das Objekt ihres Begehrens zu unterschreiben. "Wer diese Fotos gesehen hat, und wer das Hansaviertel nicht kennt, der ist da einfach raus."
Ein betont internationales und modernes Stadtbild
Tatsächlich, wer diese Architektur nicht näher betrachtet, hält die Gegend vielleicht einfach für ein weiteres Projekt gescheiterten sozialen Wohnungsbaus, bei dem die Idee, Wohnen vom Arbeiten und Einkaufen strikt zu trennen, nicht aufgegangen ist. Nun, Jahre später, kann man hier außer zahlreichen, leicht angegrauten Hochhäusern etliche unbelebte Betonplätze mit leeren Sitzbänken entdecken. Herweg dagegen kennt sich gut aus mit der Geschichte des Viertels und schätzt die moderne Architektur.
Ihre Begeisterung ist ansteckend. Während sie erzählt, möchte man am liebsten selbst schon Pläne für einen Umzug schmieden. Wie sie berichtet, bestand das Viertel vor dem Zweiten Weltkrieg aus einer typischen Blockrandbebauung mit herrschaftlichen Gründerzeitvillen und Hinterhöfen. Ab 1943 wurde es zu 90 Prozent zerstört. In den 1950ern beschloss man dann, das Hansaviertel zum Symbol des Erneuerungswillens der Stadt zu machen. Außerdem galt der Neubau als Reaktion auf den Bau der Stalinallee (später: Karl-Marx-Allee) im Ostberliner Bezirk Friedrichshain, deren Architektur sich an der sowjetischen Monumentalarchitektur orientierte.
Dieser sollte in West-Berlin ein betont internationales und modernes Stadtbild entgegengesetzt werden. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Interbau lud man dann 53 Architekten (ja, nur Männer) aus 13 Ländern zu einem Wettbewerb ein, allesamt Verfechter westlich-moderner Vorstellungen vom "Neuen Bauen", darunter Alvar Aalto, Werner Düttmann, Egon Eiermann, Walter Gropius, Arne Jacobsen, Oscar Niemeyer und Max Taut.
"Die Architektur kommt zuerst"
1956 begann Berlin mit der Neugestaltung des Hansaviertels. "Jetzt ist alles vom Bürgersteig zurückgenommen und ganz viele Grünflächen drumherum", beschreibt Herweg das direkt an den Tiergarten grenzende Gebiet. Tatsächlich wurden die Rasenareale auch von Landschaftsarchitekten geplant und sind Teil des Denkmalschutzes. Zusätzlich zu den Wohnzeilen und Hochhäusern gehören auch das Einkaufszentrum, in dem sich heute Grotto befindet, eine Kirche, sowie die Bibliothek und die Akademie der Künste, beide von Werner Düttmann entworfen, zum Hansaviertel.
Neben den Menschen, die bereits seit Ende der 1950er in den Bauten wohnen, leben heute tatsächlich auch einige Künstlerinnen, Kuratoren und Designbegeisterte im Viertel, die sich bewusst aufgrund der Geschichte und der Architektur für das Leben dort entschieden haben. So wie Herweg. Als sie nach ihrem Umzug immer wieder den Leerstand in der Einkaufspassage wahrnahm, wusste sie, dass sie dort etwas machen will.
"Die Architektur kommt bei mir meistens zuerst und dann die Kunst", fasst Herweg die Genese von Grotto zusammen. Um herauszufinden, wer die Räume vermietete, trat Herweg dem Bürgerverein bei. Und sie hatte ein gutes Timing, denn gleich beim ersten Treffen in der Hansabibliothek diskutierte man, wer die neu freiwerdenden Räumlichkeiten übernehmen könnte – ein Nagelstudio, ein Pop-up für Cocktailworkshops? Herweg schaltete sich ein – und bekam den Raum.
"Man muss einfach nett bleiben"
Der Bürgerverein bezuschusst die Miete. Als Gegenleistung hat sie ein kleines Regal mit Infobroschüren und Büchern zur Interbau in der Ecke angebracht. "Das Design musste ich ein bisschen verhandeln." Doch darin scheint Herweg sowieso gut zu sein. Sie weiß offenbar genau, was sie will, und scheint es am Ende auch meistens zu bekommen. Die Firma, die sie für das Bespielen der Plakatwände für die Ausstellung mit Stefan Marx im U-Bahnhof anfragte, wollte zum Beispiel zuerst partout nicht kooperieren. Herweg rief jeden Tag an, und nach drei Monaten einigte man sich auf einen Sonderrabatt von 84 Prozent. "Man muss einfach nett bleiben."
Herweg wirkt nicht nur nett und zäh, sondern auch leidenschaftlich begeistert, von dem was sie macht. Als nächstes zieht sie für ein Jahr nach London, um dort den Master in Curatorial Studies zu machen. Grotto wird es trotzdem weiter geben. Sie plant, regelmäßig nach Berlin zu kommen und hat schon eine Mitarbeiterin gefunden, die zu den Öffnungszeiten da sein wird. Man darf also gespannt sein, wie es weitergeht. Ihr langfristiges Ziel, erste weibliche Direktorin der Neuen Nationalgalerie zu werden, benennt sie zwar eher im Scherz – aber wer weiß.