"Wütend" trifft es nicht wirklich. In verzweifeltem Zorn marschiert Lee Miller (Kate Winslet) in ein Londoner Redaktionsbüro und reißt sämtliche Archivschubladen auf. Irgendwo müssen ihre Bilder doch stecken, schreckliche Dokumente aus Deutschland, unmittelbar nach der Kapitulation von der Kriegsberichterstatterin fotografiert.
In der "Victory issue", der Ausgabe der britischen "Vogue" vom Juni 1945, fehlt die eigentlich geplante Bildstrecke: Leichen aus dem Konzentrationslager Dachau wären zu sehen gewesen, das Porträt eines traumatisierten Mädchens, das dort überlebt hat, und auch Bilder aus einem zerbombten, moralisch zerrütteten Land.
All das wollte die "Vogue" nicht mehr abdrucken – da greift die eigensinnige Fotografin lieber trotzig zur Schere und zerschneidet ihre soeben aufgestöberten Negative. "Wir sollten jetzt nach vorne schauen", ruft "Vogue"-Redakteurin Audrey Withers (Andrea Riseborough) ihrer davonstürmenden Freundin Lee nach. Wegschauen, aber die Zukunft im Blick? Wie hohl das klingt. Audrey bricht denn auch in Tränen aus – nach Lees Abgang.
Können wir unsere schlimmsten Seherfahrungen mit der Welt teilen?
Wir sehen, was wir sehen wollen. Aber was sehen wir? Halten wir auch den Blick in den Abgrund aus? Können wir unsere schlimmsten Seherfahrungen am Ende mit der Welt teilen? Lee Miller durfte es nicht. Nach 1945 zog sie sich weitgehend ins Privatleben zurück; das Gros ihrer Bilder von Krieg und Shoah wurde lange nach dem Tod der Fotografin veröffentlicht, in dem Band "Lee Miller’s War", den ihr Sohn Antony Penrose erst 1992 herausgab. Für "Die Fotografin" in Ellen Kuras’ Biopic, das im US-Original den schlichten Titel "Lee" trägt, bedeutet die Nichterscheinung der Horrorfotos einen Bruch. Von hier aus kann sie nicht weiterarbeiten.
Das eigentliche Trauma, Millers Blick auf das absolute Grauen, inszeniert Kuras eher dezent. Es bleibt die Skepsis, ob und wie das unmittelbare Lagergeschehen, auch nach der Befreiung, überhaupt fiktionalisiert werden kann. In "Schindlers Liste" ging Steven Spielberg 1993 mitten hinein in das Grauen von Auschwitz-Birkenau, Jonathan Glazers "The Zone of Interest" blieb 2023 vor den Toren des Vernichtungslagers stehen.
Kuras lässt ihre Hauptdarstellerin in eine Leichenkammer in Dachau schauen, dieser Anblick wird uns als Zuschauern zunächst erspart. Kate Winslets Mienenspiel erzählt ohnehin alles. Später zeigt Kuras das Originalbild, das Miller im Mai 1945 mit ihrer Rolleiflex fotografiert hatte.
Eine Offenbarung, die in zwei Hälften reißt
"Mein Leben wurde gespalten, in die Zeit, bevor ich die Bilder sah, und in die Zeit seither. Es war eine Art Offenbarung, die mich in zwei Hälften riss", so schilderte Susan Sontag, wie sich die Bilder aus Auschwitz auf sie als Zwölfjährige auswirkten. Lee Miller hat ähnliche Bilder selbst produziert und sogar die Realität gesehen. Wie sehr muss sie das zerrissen haben?
Die US-Amerikanerin (1907-1977) wurde 1926 von Condé Nast nach einer Zufallsbegegnung als Fotomodell engagiert. Der große Verleger hatte sie vor einem Unfall bewahrt; die junge Frau wäre in Manhattan fast von einem Auto überfahren worden. Sie ließ sich von berühmten Fotografen wie Edward Steichen zunächst für "Vogue" inszenieren und ging 1929 nach Paris, um sich der Kunstszene anzuschließen. Sie lebte mal in Kairo, in London und New York, arbeitete als Porträt- und Modefotografin, schuf aber auch freie, vom Surrealismus inspirierte Werke.
Die Vielseitigkeit der Künstlerin und auch ihre Bohème-Existenz der ersten Jahrhunderthälfte werden in "Die Fotografin" nicht unterschlagen, dennoch fokussiert der Film auf "Millers Krieg". Die erste Einstellungsfolge setzt den Ton für das Kommende. Wir hören das heftige Schlagen eines Herzens, sehen die Bildreporterin durch einen Kugelhagel rennen. Dann blendet der Film ins Südfrankreich der späten 1930er zurück – ein letzter unbeschwerter Sommer mit Künstlerfreunden.
An der Côte d’Azur lernt Lee auch den Maler Roland Penrose (Alexander Skarsgård) kennen und lieben. Man diskutiert über Hitler, dessen Gefährlichkeit in der Gruppe eher unterschätzt wird. In den rahmenden Szenen – eine Interviewsituation mit der 70-Jährigen in ihrem englischen Cottage – sagt Miller einmal, "es" (die Naziherrschaft über halb Europa) habe sich "so langsam ereignet. Es passierte über Nacht". Ein treffend paradoxer Satz in einem Drehbuch (Liz Hannah, Marion Hume, John Collee), das sich durch markante Dialoge und geschickte Verdichtungen auszeichnet.
Eine Spur zu kalkuliert
"Die Fotografin" hält sich gottlob nicht sklavisch an Millers Biografie. Handlungen und Figuren sind Konstruktionen, und das ist auch gut so. Dass es mitunter an Resonanzraum für Winslets große Ausdruckskunst mangelt, geht auf das Konto der Regisseurin: Die US-Amerikanerin Ellen Kuras kommt aus dem Dokumentarfilm-Bereich (ihr Regiedebüt "The Betrayal – Nerakhoon" von 2008 kreist um Geflüchtete aus Laos in New York), und "Lee" ist Kuras’ erster Spielfilm: im Ganzen gelungen, aber eine Spur zu kalkuliert.
Aus den vielen Lebensabschnittspartnern Millers (sie war auch mit Man Ray liiert) greift sich der Film zwei heraus, ihren Ehemann Roland Penrose und ihren Fotografenkollegen David E. Scherman (Andy Samberg). Die zeitweilige Ménage à trois scheint gut zu funktionieren. Als Scherman fragt, ob sich Roland an seiner Anwesenheit störe, erwidert Lee: "Den Mann, mit dem ich schlafe, stören nur die Männer, mit denen ich nicht schlafe". Polyamorie ist möglich?
Während der einer Quäkerfamilie entstammende Kriegsdienstverweigerer Roland im London der 1940er Camouflagetechniken für Krieg und Heimatschutz entwickelt, geht Lee an die Westfront. Mit David, der ebenfalls als Kriegsfotograf arbeitet, trifft sie im südfranzösischen Saint-Malo zusammen. Nach Kriegsende reisen sie nach München, wo in Hitlers Privatwohnung am Prinzregentenplatz 16 das berühmte Foto von Miller in des Führers Badewanne entsteht.
"Wir waren im Krieg, während Du Bretterbuden angemalt hast"
Überzeugend stellt Kuras die Szene nach, bei der Scherman und Miller das inzwischen ikonische Bild improvisatorisch inszenieren. Nur die etwas an Bernard Herrmanns "Psycho"-Score gemahnende Musikuntermalung stört. Ansonsten ist an Alexandre Desplats subtilem Underscoring nichts auszusetzen. Lee kichert, als sie der Wanne entsteigt. Wenig später liegt David, der amerikanische Jude, weinend in ihren Armen – als begreife er nun erst, wo und wer er ist.
Lee und ihr Lover "Davy" berichten von der Front und aus dem befreiten Deutschland. Roland, der Pazifist, bleibt in England. "Wir waren im Krieg, während du in England Bretterbuden angemalt hast", wirft seine Frau ihm einmal vor. "Die Fotografin" verhandelt kein abgeschlossen historisches Thema, sondern ein sehr aktuelles. Wir betrachten den Film vor dem Hintergrund des Angriffskriegs in der Ukraine, können nicht umhin, unser Dilemma zwischen Intervention und Zurückhaltung in die Figur der Fotografin hineinzuprojizieren. Von ihr lernen hieße: hinsehen, auseinandersetzen, empathisch sein. Beweglich bleiben, statt vor Angst zu erstarren.
In der Rahmenhandlung (mit einem aufschlussreichen final twist) erleben wir eine verbitterte, dem Alkohol zugeneigte, früh gealterte Frau. Eine, auf die das Wort von Friedrich Nietzsche passt: Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Wer mitleidet, kann zerbrechen. "Be a mensch", sagen die New Yorker Juden. Menschsein birgt Risiken. Lee Miller hat das erfahren. Kate Winslet spielt es unfassbar gut. Jede Wette: Sie wird ihren zweiten Oscar dafür bekommen.