Anish Kapoor in Berlin

Landschaften, Skylines und Menschen

Als wäre sie eine Tubenöffnung, drängt zähes, glühend rotes Wachs Zentimeter für Zentimeter durch die meterhohe Bogentür des Museums. Verliert sich in Fetzen an ihren Rändern, kleckst auf den weißen Boden, nimmt als monumentaler Block den dahinter liegenden Raum ein. Er ist zwar statisch, dennoch hinterlässt er das Gefühl eines ratternden Schnellzugs. So kann es aussehen, wenn Anish Kapoor seine Materialexzesse beginnt. Die Farbe Rot mäandert durch sein gesamtes Werk, von den frühen abstrakten Objekten aus Pigmenten bis zur Installation „Svayambh“, die 2007 im Münchner Haus der Kunst zu besichtigen war. „Rot macht eine Art Schwarz, die Blau nicht vermag. Es ist ein Schwarz, dass du siehst, wenn du deine Augen schließt. Es ist etwas, was du ganz genau kennst“, sagt der in London lebende Bildhauer, der zu den prominentesten britischen Vertretern dieser Kunstgattung gehört.

Konfrontiert mit Kapoors technisch aufwendigen (wie hat das Haus der Kunst wohl die Wachsreste entfernt?), oft haushohen Skulpturen, begegnet der Betrachter auf einer unmittelbaren Ebene sich selbst. Und hat manchmal den Eindruck, einem unwiderstehlichen Sog ausgesetzt zu sein. „Descent into Limbo“ etwa, ein tiefschwarzes Loch im Boden, scheint den Blick in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zu ziehen. Die Arbeit, die 1992 für die Documenta entstand, wird in der Schau des Berliner Martin-Gropius-Baus in einer Neukonzeption gezeigt.

Als Kind hatte der 1954 in Indien geborene Künstler stets den Drang, die Bilder seiner aus dem Irak stammenden jüdischen Mutter zu beenden, heute weisen seine Objekte in die Leere. Kapoor erschafft Oberflächen als Illusionen, die erst durch den Betrachter zu existieren beginnen. So monumental, so intim. Der Turner-Prize-Träger arbeitet mit Stein, Stahl, Wachs, PVC-Häuten und Hightech-Material. Er entwirft Spiegelskulpturen, in denen sich Landschaften, Skylines und Menschen reflektieren, verzerren, verdrehen, vervielfältigen. Mit dem strengen Schnitt der Optik stellt er Wirklichkeit neben Täuschung. Welche Rolle hat dabei die Person Anish Kapoor? Obwohl er oft die malerischen Farben seines Geburtslandes verwendet, versucht er, sein Werk so wenig wie möglich zu kommentieren.

Rund 70 Werke sollen im Martin-Gropius-Bau einen Überblick über das Schaffen des Künstlers von 1982 bis heute ermöglichen. Darunter sind Arbeiten aus getürmtem Pigmentpulver, spiegelndem Stahl und Wachs. Für den Lichthof hat er eine Skulptur entworfen, deren Gestalt bis zur Eröffnung geheim bleibt. Man darf vermuten, dass sie nicht klein sein wird – und dass sie viele Menschen anzieht. Denn egal ob in Wachs oder verspiegelt: Bei Anish Kapoors großen Auftritten sind Besucherrekorde die Regel.

„Anish Kapoor“, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 18. Mai bis 24. November. Ein Interview mit dem Künstler über die Ausstellung in Berlin finden Sie hier