"Wir möchten an dieser Stelle unsere Sorge darüber ausdrücken, dass mit den jüngsten Überlegungen und Maßnahmen des Aufsichtsrates der documenta eine international agierende und einflussreiche Kulturinstitution in Deutschland in ihrem Image erheblich beschädigt wird und damit auch das Bild Deutschlands im Ausland", heißt es in dem am Sonntagabend verschickten Brief, der von 135 Personen aus dem Kunstbetrieb unterzeichnet wurde.
Die Unterzeichner werfen der Lokal- und Landespolitik vor, "ein von ihr selbst lanciertes, finanzielles Defizit zum Anlass" zu nehmen, "offen über die Umstrukturierung der documenta im Sinne einer reinen Kommerzialisierung und Vermarktung der Marke documenta zu debattieren. Eine erste Konsequenz aus diesen Überlegungen war die Auflösung des Vertrags mit der Geschäftsführerin Annette Kulenkampff. Ein anderer Grund hierfür ist nicht bekannt, da ihr an dem erwähnten Defizit, das aus einer von allen Beteiligten gemeinsam getragenen Programmkonzeption entstanden ist, keinerlei Schuld nachgewiesen wurde."
Die Unterzeichner wenden sich entschieden gegen Schuldzuweisungen gegen die Geschäftsführerin. Kulenkampff wird zum 1. Juni ausscheiden, in "beiderseitigem Einvernehmen". So kommunizierte es im November die Stadt Kassel. Die Documenta 14 unter der künstlerischen Leitung von Adam Szymczyk fand in diesem Jahr in Kassel und in Athen als zweitem, gleichberechtigten Standort statt. Das Defizit in Höhe von von 5,4 Millionen Euro war im September kurz vor dem Ende der Ausstellung bekannt geworden. Im November teilte der Aufsichtsrat und die Stadt Kassel mit, dass das Millionen-Defizit allein am Standort Athen entstanden sei.
In dem nun veröffentlichten Brief heißt es: "Dass die gemeinsame Wahl eines zweiten Standortes Zusatzkosten verursachen kann, war allen Beteiligten bekannt. Das Kostenrisiko wurde rechtzeitig kommuniziert. Man kann deshalb keinen anderen Grund für den vehementen Eingriff durch die lokale und regionale Politik erkennen, als den Versuch, sich einer unabhängigen Struktur zu bemächtigen und sich dabei mit Annette Kulenkampff zuerst jener Person zu entledigen, die auf besonders unbequeme Art für die künstlerische und wissenschaftliche Autonomie der documenta gebürgt hatte."
Der offene Brief endet mit fünf Forderungen, die jeder mit einer Online-Petition unterstützen kann:
- Der Aufsichtsrat wird um einen internationalen Expert_innenbeirat erweitert, der in enger Verbindung mit der documenta gGmbH einen zukunftsweisenden, verbindlichen Kriterienkatalog für die documenta entwirft.
- Der Rechtsstatus als gemeinnützige GmbH wird beibehalten.
- Die zukunftsweisenden Planungen der wissenschaftlichen Aufbereitung und Vermittlung des documenta Archivs, zur sachgerechten Betreuung der Kunst im öffentlichen Raum und der zeitgemäßen Erneuerung der documenta werden fortgesetzt.
- Das Budget der documenta wird an die Anforderung eines globalen, weltweit wirksamen Kunstereignisses, das in seiner Dimension einzigartig ist, angepasst.
- Der Aufsichtsrat sollte die Fortbeschäftigung Annette Kulenkampffs beschließen, da sie die documenta vielversprechend ausgerichtet hat
Der Brief wurde initiiert von Iris Dressler und Hans D. Christ, den Direktoren des Württembergische Kunstvereins Stuttgart, Elke aus dem Moore, Leiterin der Abteilung Kunst des Instituts für Auslandsbeziehungen, Gerrit Gohlke, Leiter des Brandenburgischen Kunstvereins, Jean-Baptiste Joly, dem Leiter der Stiftung Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, und Bettina Steinbrügge, Leiterin des Kunstverein Hamburgs.
Zu den Erstunterzeichnern gehören unter anderem Marion Ackermann, Inke Arns, Ute Meta Bauer, Ralf Beil, René Block, Monica Bonvicini, Sabeth Buchmann, Janneke de Vries, Chris Dercon, Helmut Draxler, Yilmaz Dziewior, Charles Esche, Søren Grammel, Ulrike Groos, Krist Gruijthuijsen, Hou Hanru, Gabriele Horn, Gregor Jansen, Alexander Kluge, Alexander Koch, Kasper König, Thomas Locher, Dirk Luckow, Matthias Mühling, Heike Munder, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Olaf Nicolai, Ruth Noack, Britta Peters, Philippe Pirotte, Walid Raad, Nicolaus Schafhausen, Barbara Steiner, Hito Steyerl, Wolfgang Tillmans und Peter Weibel.