Kunst als Suizid-Prävention

"Wenn etwas sichtbar wird, verliert es einen Teil des Schreckens"

Der 10. September ist internationaler Suizidpräventionstag. Besonders die therapeutische Betreuung psychisch erkrankter Menschen ist dabei wichtig. Auch Kunst kann helfen

Zahlen sind nüchtern. Neuntausendzweihunderfünfzehn. Diese Zahl ist anders: Sie erschüttert. 9215, so viele Menschen sind 2021 in Deutschland durch Suizid gestorben, wie das Statistische Bundesamt angibt. Das sind 25 Menschen am Tag. Um auf das Problem hinter den Zahlen aufmerksam zu machen, ist der 10. September von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der International Association for Suicide Prevention zum internationalen Suizidpräventionstag aufgerufen worden.

Der Tag ist wichtiger denn je. Denn: Depression ist eine Volkskrankheit. Im Durchschnitt ist jeder dritte Deutsche mindestens einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die Wartezeit für einen Therapieplatz dauert im Durchschnitt fünf Monate – und ist mühsam. Dabei ist bei einer psychischen Erkrankung kaum etwas wichtiger als eine gute psychotherapeutische Versorgung. Auch, um die Zahl der Todesfälle durch Suizid zu verringern.

Helfen kann dabei die Kunst. "Bildlicher Ausdruck ist eine Kommunikationsform jenseits der Sprache", sagt Jennifer Linder, die in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité als Kunsttherapeutin arbeitet. Gedanken und Gefühle künstlerisch zu verarbeiten - dieser Vorgang ist so alt wie die Menschheit selbst. Auch der therapeutische Nutzen von Kunst ist kein neues Phänomen. Man denke an Frida Kahlo, die ihr Leid immer wieder künstlerisch verarbeitete, Edvard Munch, der traumatische Erfahrungen in seine Kunst einband oder Francisco de Goya, der innere Dämonen in seinem Werk bildlich darstellte.

Nicht wie Kunstunterricht

Kunsttherapie setzt sehr niedrigschwellig an, richtet sich erst mal an jede und jeden, unabhängig von Diagnose, Alter oder künstlerischer Affinität. Dennoch mögen bei dem Wort Kunsttherapie einige erstmal zusammenzucken. Wird man dazu aufgefordert, die eigene Wut zu malen oder Angst zu töpfern? Erinnert es am Ende noch an ungeliebte Erfahrungen aus dem Kunstunterricht in der Schule?

Jennifer Linder erklärt, dass Kunsttherapie anders aussieht. Statt am Ende hübsche Bilder auf den Tischen zu haben, gehe es darum, einen Raum zu kreieren, in dem sich die Patienten und Patientinnen selbst begegnen können. Künstlerischer Ausdruck ist ein Hilfsmittel auf diesem Weg. "Die einzige Voraussetzung zur Teilnahem an der Kunsttherapie ist die Bereitschaft, sich darauf einzulassen", sagt sie. Besonders heilsam sei der Aspekt, sich dabei selbstwirksam zu erfahren, so Linder.

Die 21-jährige Hannah erzählt, dass es ihr bei ihrem ersten Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik zunächst schwerfiel, sich auf Kunsttherapie einzulassen. Besonders, dass die Therapie in Gruppensituationen stattfand, habe sie zunächst verunsichert. "Irgendwann hat sich das durch zusätzliche Therapieangebote verändert. Ich habe mich in den gestalterischen Prozessen begonnen zu fragen, was mein Körper möchte und welche Bewegungen ich gerade brauche. Ich habe oft mit ganz viel Farbe gearbeitet", erzählt sie. Später hat sie es wertgeschätzt, gemeinsam mit anderen Menschen Therapie zu machen und sich in gestalterischen Prozessen zu begegnen.

Wachsmaler, Ton, Papierschnipsel 

Kunsttherapie folgt keinem festgefahrenen Schema. Jennifer Linder bietet ihren Patienten und Patientinnen verschiedene Techniken an, mit denen sie arbeiten können: Töpfern, Malen, Drucktechnik, Zeichnen, Collagen kleben. Schon die Auswahl der Materialien ist Teil des therapeutischen Prozesses. "Mit Ölkreide kann man zum Beispiel stark aufdrücken", erzählt Linder, "In diesem Duktus kann sich Anspannung ausdrücken und vielleicht auch schon etwas lösen." Nicht nur Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sondern sie überhaupt erst einmal ins Bewusstsein zu rücken, sind laut Linder zentrale Ziele der Kunsttherapie.

"Kunsttherapie hat es für mich einfacher gemacht, über Themen zu sprechen, über die ich sonst nicht geredet hätte. Ich musste meine Probleme nicht verbal ausdrücken, sondern konnte sie einfach malen. Das hat es dann einfacher gemacht", erzählt Hannah. Kunst hat ihr geholfen, ihre Gefühle zu externalisieren. "Etwas zu gestalten kann zum Beispiel Menschen helfen, die unter selbstverletzendem Verhalten leiden, und den Druck im Inneren reduzieren", sagt die Kunsttherapeutin Jennifer Linder.

In diesem Ansatz ist zunächst keine Differenziertheit oder Reflexion nötig – erst mal wird gemacht und gefühlt. Die Prozesse schließlich ins Bewusstsein zu übersetzen, ist der nächste Schritt, zu dem die gemeinsame Betrachtung der Werke gehört. "Manchmal erkennen die Beteiligten ganz unterschiedliche Dinge. Vielleicht sieht ein Patient vor allem die schwarze Farbe, mit der er gearbeitet hat, aber einem anderen fällt auf, dass auf dem Bild auch mit rot gearbeitet wurde und nicht alles dunkel ist", erzählt Jennifer Linder. "Über die Bilder ins Gespräch zu kommen, eröffnet die Möglichkeit auf einer bewussteren Ebenen mit den Inhalten zu arbeiten", fährt sie fort.

Der Schrecken nimmt ab

"Oft verstumme ich einfach, wenn mir bestimmte Themen und Emotionen zu nah kommen. Kunst ist und bleibt für mich einer der größten Türöffner zu all dem Verschütteten, Verbotenen, Unbeschreiblichen", sagt die 39-jährige Sabrina, die wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung mehrmals in psychosomatischen Kliniken war und dort kunsttherapeutische Angebote wahrgenommen hat. Über die Kunst konnte sie immer wieder einen Zugang zu sich selbst finden.

"Wenn etwas sichtbar wird, was es sonst nie sein durfte, verliert es einen Teil des Schreckens", sagt sie. Hannah geht es ähnlich. "Wenn ich mir rückblickend ansehe, was in der Kunsttherapie entstanden ist, kann ich damit oft noch resümieren. Die Probleme, die den Dingen zugrunde lagen, fühlen sich aber nicht mehr so schlimm an, weil sie schon einen Ausdruck gefunden haben." 

Zu malen ist für Sabrina auch außerhalb der Therapie zu einer besonderen Hilfe geworden. "Kunst lenkt mich an Tagen ab, an denen es nur darum geht, weiterzumachen, und beruhigt mich. Es hilft mir, schwere Momente besser auszuhalten", sagt sie. Unzählige Spiralen und Schnörkel habe sie in schlaflosen Nächten gemalt, erzählt Sabrina.

"Wir brauchen eine Qualitätssicherung der Ausbildung"

In psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken ist Kunsttherapie längst fest etabliert und Teil des Fallpauschalensystems. Schon vor über zehn Jahren boten über 57 Prozent der Einrichtungen Kreativtherapien an. Ambulant sieht es dabei noch ganz anders aus, da Kunsttherapie nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen abgedeckt wird, da sie "als Heilmittel-Maßnahme gelistet ist, deren therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen ist", wie eine Sprecherin der Geschäftsstelle des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), einer Gemeinschaft aus Ärztinnen, gesetzlichen Krankenkassen und Krankenhäusern, angibt. 

Auch die Berufsbezeichnung "Kunsttherapeutin" ist in Deutschland kein geschützter Begriff. "Aufgrund fehlender berufsrechtlicher Vorgaben unterliegen Kreativtherapien keiner Qualitätssicherung durch den Gesetzgeber", schreibt das Bundefamilienministerium 2021 in der  Ausarbeitung Verankerung von künstlerischen Therapien im Gesundheitssystem.

Prüfungen von Kunsttherapeuten erfolgen lediglich durch die Eigeninitiative von Fachverbänden, darunter dem Verband Deutscher Kunsttherapeuten. Das sieht Jennifer Linder, die einen dreijährigen Master in Kunsttherapie an der Kunsthochschule Weißensee abgeschlossen hat, kritisch. Bezeichnen sich Menschen ohne die passende psychotherapeutische Ausbildung als Therapeuten, kann das im schlimmsten Falle gefährlich werden. "Wir brauchen eine Qualitätssicherung der Ausbildung", findet Linder.

Kunst versus Krankheit

Therapeutische Verfahren, die das Mittel der Kunst nutzen, entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Prägend für die Entwicklung der Kunsttherapie in Großbritannien war der Maler Adrian Hill, der während eines Aufenthalts in einem Sanatorium seine Mitpatienten dazu anhielt, sich kreativ auszuprobieren. In dem Buch "Art versus Illness" von 1945 dokumentiert er die entstandenen Arbeiten.

Parallel dazu entwickelten Margaret Naumburg und Edith Kramer in den USA kunsttherapeutische Konzepte, der die kunstpädagogische Arbeit mit Kindern zugrunde lag. Im deutschsprachigen Raum stand Kunsttherapie lange im Zusammenhang mit anthroposophischer Medizin. Erkenntnisse aus der Psychotherapie, wie etwa die Bedeutung des Unterbewussten, sowie neue Kunstströmungen wie der Surrealismus oder Techniken wie Action Painting führten schließlich zur Weiterentwicklung der Konzepte.

So wie es in der Kunst unterschiedliche Strömungen und Stilrichtungen gibt, unterscheiden sich auch die Formen der Kunsttherapie. Eine Basis ist der Ansatz der Reformpädagogik, dass eigenverantwortliches und schöpferisches Tun eine Grundlage für die Entwicklung des Menschen ist.

Auf dem Weg passiert so viel

Auch die Psychoanalyse, die auf Sigmund Freud und C. G. Jung zurückgeht, war prägend. Sie unterliegt der Annahme eines kollektiven Unterbewusstseins, in dem symbolischen Archetypen manifestiert sind, die in der Visualisierung psychischen Geschehens sichtbar werden können.

All dem liegt der Gedanke zugrunde, Kunst als Mittel im Umgang mit den eigenen Gefühlen zu nutzen, um sich so besser zu verstehen. Und im besten Fall einen reflektierten und wohlwollenden Umgang mit sich selbst zu entwickeln. Sabrina erzählt, sie habe durch Kunsttherapie viel Heilsames erfahren. Besonders wichtig sei für sie gewesen "zu merken, dass nicht nur das Produkt gesehen wird, sondern auf dem Weg so viel passiert. In mir. Dass Menschen darüber Zugang zu meinem Inneren finden können: besonders ich selbst."