Interview mit dem Affichisten Jacques Villeglé

"Kunst ist ein Abenteuer"

Herr Villeglé, Sie gelten als einer der Mitbegründer des Neuen Realismus und begründeten im Paris der 50er-Jahre gemeinsam mit Raimond Hains und François Dufrêne die Bewegung der Affichisten in Paris. Wie kamen Sie dazu, Plakate abzureißen und daraus Kunst zu machen?

Während des Krieges war nahezu die gesamte Kultur in Frankreich zerstört worden, und auch nach dem Krieg herrschte eine phänomenale kulturelle Zensur. Ich begann zu recherchieren, entdeckte die Kultur des 20. Jahrhunderts für mich und las darüber in alten Büchern – die waren jedoch durch die Zensur sehr selten und schwierig zu finden. Sie müssen bedenken, dass wir damals noch nicht diese Fülle an Informationen hatten, wie es sie heute gibt, es war sehr viel aufwendiger, bestimmte Themen zu recherchieren. Frankreich wurde durch den Impressionismus geprägt, jeder wollte damals ein Impressionist sein. Die Zensur führte dazu, dass man in Frankreich praktisch keinen Bezug zu zeitgenössischer Kunst hatte. Ich kannte die großen Künstler des 19. Jahrhunderts, aber ich wusste nichts über Kubismus, Dadaismus oder Surrealismus, das musste ich alles selbst lernen. Das ist das Unerklärliche: Kein Künstler kann erklären, warum er Künstler ist. Alles, was wir machen, ist gegen die Vernunft.

Sie haben ganz klassisch Kunst und Architektur studiert, das Studium schlossen Sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Hat der Krieg Sie in der Wahrnehmung und Umsetzung Ihrer Kunst beeinflusst?

Der Krieg war eher eine Atmosphäre, eine Stimmung, in der wir gelebt haben. Wir alle kannten den Krieg, haben die Bomben und das alles miterlebt, aber meine Kunst habe ich selbst erschaffen. Ich hatte keine Lehrer, die mich beeinflusst haben, ich kannte auch keine Kuratoren oder ähnliches. Das Einzige, was ich über Kunst verstanden habe, ist: Kunst ist ein Abenteuer. Man muss sensibel sein und bereit für Veränderungen. Es geht nicht darum, etwas Vollkommenes, etwas Ordentliches zu schaffen.

Die Affichisten nehmen innerhalb der Avantgarde eine Sonderstellung ein. Grenzten Sie sich bewusst von der abstrakten Malerei und von den Techniken wie der Collage oder den Readymades ab?

Diese Abgrenzung ist einfach eine Ironie. Zwischen den Plakaten, die wir aussuchten, befanden sich oft monochrome Flächen, die wir beibehielten, daraus ergab sich auch abstrakte Kunst. Mit den Affichisten wollte ich etwas Modernes schaffen. Als ich jung war, waren alle Maler, die abstrakte Kunst schufen, wie zum Beispiel Kandinsky, im Alter meines Großvaters. Ich dachte, das sind alte Männer und ich wollte etwas anderes machen, etwas, das nicht altbacken oder bieder war.

Es muss sehr inspirierend und interessant gewesen sein, mit Künstlern wie Dufrêne oder Hains zusammenzuarbeiten. Wie kann man sich ein solches Künstlerkollektiv vorstellen?

Zusammenarbeit passt nicht ganz als Bezeichnung, wir hatten eher ähnliche Vorstellungen. Wir waren damals alle Nachbarn, wohnten nur 300 Meter voneinander entfernt, das wäre heute so auch nicht mehr möglich. Raymond Hains war der erste, mit dem ich arbeitete. Den ersten Plakatabriss "Ach Alma Manetro" hatte ich alleine begonnen, und wir brachten ihn gemeinsam zu einem Abschluss. Wir hatten teilweise aber auch unterschiedliche Interessen und verfolgten verschiedene Ansätze. Wolf Vostell beispielsweise hatte eine stärkere Verbindung zu Fluxus, eine sehr intellektuelle Bewegung. Vostell hatte die Invasion Deutschlands miterlebt, das hat ihn sehr belastet. Er sah aus wie ein Rabbiner mit seinen Schläfenlocken, er kleidete sich auch so. Er hatte eher eine expressionistische Einstellung und war politisch aktiv, er passte zu Fluxus. Ich selbst habe aber nie an den Ausstellungen teilgenommen.

Warum nicht?

Nun, ich wurde nicht eingeladen. Aber ich bat auch nicht um eine Einladung. Ich kannte Fluxus und fand es großartig, aber mir persönlich war das alles zu intellektuell und zu politisch. Dufrêne hat mit ihnen ausgestellt. Ich würde gerne noch etwas mehr zu Dufrêne erzählen. Er war damals der Jüngste, 1930 geboren. Er war der Schüler von Isidore Isou, seine ersten Werke veröffentlichte er mit 16. Ich traf Dufrêne als er sich gerade von Isou getrennt hatte, es entstanden zwei Bewegungen: Der Lettrismus und die Poésie Sonore. Dufrêne war der Meinung, dass Poesie spontan geschehen muss und arbeitete mit Tonbandgeräten. Die ältesten Geräte wogen sicherlich rund 14 Kilogramm und benötigten Strom, das war sehr unpraktisch. Diese Ansicht und das Vorgehen waren im Grunde der Hauptunterschied zwischen Dufrêne und Isou. Dufrêne hat viel mit Worten gespielt, er hat ihre Bedeutungen interpretiert, sie deformiert und neue Kompositionen geschaffen.

In Ihrer Arbeit nahm die anonyme Autorschaft eine zentrale Rolle ein. Welche Bedeutung hat diese für Sie?

Raymond Hains und ich haben unsere Werke nie signiert, das stieß bei vielen Künstlern auf Unverständnis. Es war einfach so: Wenn ich morgens ein Plakat abriss, dann wählte ich eher eines mit ruhigen Motiven, abends dann eher ein expressives. Morgens nahm ich gerne Plakate, die nur Farben enthielten, abends waren sie ausdrucksvoller. Daraus konnte ein gewisser Identifikationsverlust entstehen: Ich war abends nie die Person, die ich noch am Morgen gewesen war. So konnte ich eine Figur schaffen, aus der heraus die anonyme Autorschaft entstand. Ich habe aber festgestellt, dass Raymond Hains damit nicht einverstanden war, ohne dass er es hätte ausdrücken können.

Als die Affichisten 1959 auf der Biennale von Paris erstmals ausgestellt wurden, löste ihre Teilnahme einen regelrechten Skandal aus. War diese Provokation von Ihnen gewollt?

Diese erste Biennale war sehr konservativ. Wir wurden damals nicht akzeptiert, man wollte uns dort nicht. Um ausstellen zu können, musste man sich zunächst einer Jury vorstellen, aber diese war gegen uns. Wir erhielten jedoch Rückhalt von fünf Künstlern, die ihr Veto gegen die Entscheidung der Jury aussprachen. Außerdem unterstützte uns der Ausstellungskommissar, er war auf ein Gleichgewicht in der Kunst bedacht, deshalb hat er uns anerkannt. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.

Es ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass die Affichisten so umfassend in einer deutschen Ausstellung gezeigt werden, obwohl es viele deutsche Sammler gibt. Was bedeutet Ihnen die Präsentation in der Schirn Kunsthalle und wie erklären Sie sich das auffällige Interesse der deutschen Sammler an der Kunst der Affichisten?

Es ist mir natürlich eine Freude, dass diese Ausstellung stattfindet. Es stimmt, wir waren lange nicht mehr in Deutschland zu sehen, aber unsere ersten Käufer waren Deutsche. Lange Zeit habe ich die meisten meiner Arbeiten nach Deutschland verkauft, das ist heute nicht mehr so. Einer meiner ersten Käufer und der wichtigste Sammler war Jan Ahlers aus Hannover. Auch das erste Museum, das die Affichisten zeigte, war in Deutschland. Erst in den 80er-Jahren wurden unsere Werke von einem Museum in Nizza gekauft und wir wurden auch in Frankreich bekannter, bis dahin hatten wir tatsächlich fast ausschließlich deutsche Käufer. Köln und Düsseldorf waren sehr wichtige Zentren für uns. Momentan halten sich die Käufer etwas zurück, aber es geht weiter. Ich erinnere mich noch immer daran, wie mein erstes Kunstwerk verkauft wurde und ich freue mich über diese Ausstellung. Das macht mich sehr glücklich.

"Poesie der Großstadt. Die Affichisten", Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 25. Mai