Betty Rieckmann
"Eine Skulptur ist nur ein Gemälde, das ausgeschnitten und irgendwo aufgestellt wird", hat Frank Stella einmal gesagt. Als hätte sie diesen Satz im Kopf gehabt, hat Betty Rieckmann die "Concentric Squares" des amerikanischen Minimalisten in eine Lichtinstallation übersetzt. Vermutlich ganz im Sinne Stellas, der die Grenzen der Malerei erkundet und am liebsten überschritten hat. In seiner radikalen Bilderserie hat er farbige Streifen fluchtpunktartig arrangiert, sodass das Auge immer wieder ins Bildinnere gezogen und nach außen gelenkt wird.
Bei Rieckmann übernimmt diese absorbierende, hypnotisierende Blickdynamik die Technik. LED-Strips leuchten irisierend. Der langsame Verlauf des immer wieder vergehenden bonbonfarbenen Lichts changiert mit der meditativen Ruhe einer Lichttherapie. „A morphing Frank Stella“ heißt ihre Arbeit. "Mich interessiert es, mit Licht zu malen", sagt die Karlsruher Medienkünstlerin. "Weil es anders als die Farbpigmente der Malerei nicht so greifbar in Form und Farbe ist."
In ihrem Atelier beugt sie sich in einer dicken Kunstfelljacke mit Animal-Print über einen riesigen weißen Tisch. Es ist kalt hier im Kühlraum der ehemaligen Obstbrand-Destillerie Kammer-Kirsch: vier Meter hohe Decken, unverputzte Backsteinwände, eine alte Holzrampe, die hinunter in den großen Gewölbekeller ihres Ateliers führt. Ein schwarzes Ledersofa steht da noch und ein 1970er-Jahre-Servierwagen in Orange. Vor ihr liegen viele verschieden große Rechtecke und Streifen, die sie aus fünf Millimeter dicken, weißen MDF-Platten zurechtgeschnitten hat. Die klebt sie für eine neue Variation ihrer Stella-Serie zu länglichen Tabletts zusammen.
Rieckmann ist 1986 als Tochter eines deutschen IT-Entwicklers in Palo Alto geboren und hat ihre ersten zehn Jahre in den USA verbracht. Sie hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe studiert und anschließend Lichtdesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Seit 2014 lebt und arbeitet sie wieder in Karlsruhe. "Die Stadt ist klein, man kommt schnell in Kontakt miteinander", sagt sie. "Als Licht- und Medienkünstlerin will ich mit einem Netzwerk aus Programmierern, Ingenieuren und Informatikern zusammenarbeiten, und das kann ich am Technologiestandort Karlsruhe besonders gut."
Hinter einem schwarzen Vorhang zieht sie einen großen Lichtkasten hervor, ein ehemaliges Werbeschild, und schließt ihn an den Strom an. Durch die große Milchglasscheibe dringt diffuses Licht in verschwommenen Farben, sanft, sphärisch und unaufdringlich. Ihre "Light Signs" sind entstanden, nachdem sie in einem Ingenieurbüro gearbeitet hat, das Reklamevideo-Displays entworfen hat. "Werbung ist grell, laut, blinkend, schrill und dominierend. Sie will Aufmerksamkeit, schreit ihre Umgebung an, will alle Blicke auf sich lenken", sagt sie. "Ich habe mich gefragt: Wie kann ich eine Media-Installation schaffen, die den gegenteiligen Effekt hat, die im Einklang mit ihrer Umgebung steht?"
Auch ihr "Light Sign" zeigt sich umschließende Konturen leuchtender Rechtecke, eine auratische, ruhige Arbeit: Die Farben ändern sich langsam, ähnlich dem Rhythmus des menschlichen Atmens. Ein Lichtsensor passt die Intensität der LEDs an die Umgebungshelligkeit an. "Die Lichtinstallation arbeitet mit ihrer Umwelt", sagt Betty Rieckmann. "Ich will einen Raum der Kommunikation mit den Betrachtenden öffnen."
Die Kapitalismuskritik, die sie hier noch leise formuliert, verschärft sie bei ihrer Analyse des Lichtphänomens Glanz. Auch der ziehe unsere Blicke an, triggere uns, sagt sie. "Gibt man Babys etwas Glänzendes in die Hand, fangen sie an, daran zu lecken. Wir sind evolutionär auf ihn gepolt, weil wir Wasser zum Überleben brauchen." Im Kapitalismus sei es das höchste Ziel des Individuums, ein Glanzpunkt zu werden. "Das ist eine lokale Blendung. Er selbst scheint hell, seine Umgebung aber verdunkelt er. Die USA mit ihrem American Dream sind für mich das Paradebeispiel einer Gesellschaft, die dem Glanz huldigt." Das erzeuge Narzissten, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten. "Sie haben ungenügende empathische Fähigkeiten für die anderen. Es ist nachgewiesen, dass sie unterentwickelte Spiegelneuronen haben."
Ihre Beschäftigung mit dem Thema mündet in zwei Arbeiten. Die erste ist eine Jeff-Koons-hafte Hochglanzskulptur von drei aufblasbaren, ballonähnlichen Buchstaben in Silber: "USA". Das U ist durchschossen, das S so adipös, dass es aufgeplatzt ist und Fett herausquillt, und das A liegt an einer Infusion mit gerollten Dollarnoten. "Es zeigt die Kehrseite einer auf Glanz angelegten Gesellschaft mit ungenügenden sozialen Strukturen und sozialem Bewusstsein. Die Folge sind eine riesige Waffenlobby, eine deregulierte Food-Industrie und eine Gesundheitsversorgung, die sich nur wenige leisten können."
In einer zweiten Arbeit deutet Betty Rieckmann die Luftballons nur in Umrissen an. Dort, wo die Glanzpunkte sein könnten, spielt sie auf kleinen gewölbten Displays Videos ab, die soziale Probleme der US-Gesellschaft zum Thema haben. Ihre beiden Arbeiten werden im Herbst im Rahmen der Ausstellungsreihe "Embodiment of Brilliance" in Karlsruhe zu sehen sein.
Fangchao Bi
14 Schmetterlinge aus schwarz lackiertem Kupferdraht stecken unter Glasglocken wie die aufgespießten Exemplare eines Insektensammlers. LEDs in Rot und Blau blinken, aber die Modelle regen sich nicht. Dann schlagen sie ein paarmal mit den Flügeln, bevor sie wieder erstarren. Die interaktive Installation "Butterfly Plan" ist inspiriert von einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2007: Pro Tag, erklärten die UN, sterben weltweit 75 Arten aus, jede Stunde verschwinden drei Arten für immer. Und so lässt auch Fangchao Bi seine Schmetterlinge dreimal pro Stunde mit den Flügeln schlagen.
Das geschieht nach dem Zufallsprinzip. "Weil auch der Zeitpunkt des Verschwindens aussterbender Lebewesen ungewiss ist", sagt der chinesische Medienkünstler. "Wir alle hören jeden Tag so viele Statistiken, dass wir ihnen gegenüber ganz taub werden und sie schnell wieder vergessen. Ich will sie veranschaulichen und diese Arbeit nutzen, um die Geschichten hinter ihnen aufzuzeigen."
Bi hat seine Falter dem Papilio chikae nachempfunden, einer Schmetterlingsart, die endemisch auf den Philippinen und vom Aussterben bedroht ist. "Ihr Fang und Verkauf ist auf den Philippinen streng verboten, aber wir können sie immer noch auf dem Onlinemarkt sehen", sagt Fangchao Bi. Dabei seien die Anzahl und Arten von Schmetterlingen in den letzten Jahrzehnten weltweit dramatisch zurückgegangen. Sie gälten aber als wichtiger Indikator für den Grad der Umweltzerstörung und des Klimawandels.
Die poetische, melancholische Installation wirft mit ihren technisch reproduzierten Flügelschlägen einen Blick in eine dystopische Zukunft. Mechanisch rattern die schwarzen Schmetterlinge, ein ästhetisierter Grusel. "Jedes Mal, wenn die Flügel schlagen, wird erfahrbar, dass eine Spezies, die seit Zigtausenden von Jahren auf der Erde gelebt hat, für immer ausgelöscht ist", sagt Bi. "Die Zuschauer wissen nicht, ob sie sich traurig fühlen oder sich freuen sollen. Denn der Flügelschlag des Schmetterlings ist auch der schönste Moment dieser Arbeit. Dieser komplexe mentale Zustand ist für mich der unvergesslichste."
Fangchao Bi ist in einer kleinen Stadt in der Provinz Hebei südlich von Peking aufgewachsen und hat an der Academy of Fine Arts in der Millionenstadt Tianjin Medienkunst studiert. Seit 2020 studiert er an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung Sound Design und Interaktive Installation. In die badische Metropole ist er wegen des exzellenten Rufs der Hochschule gekommen und der internationalen Strahlkraft des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM).
Hier sitzt er in der riesigen Halle im Café bei einem Cappuccino vor seinem Laptop. Er trägt ein graubraunes Jackett und weiße Turnschuhe, spricht sehr leise und bewegt seine Hände dabei in minimalistischen Halbkreisen. Er besucht oft die Ausstellungen hier im Haus, der weltweit bekanntesten Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie, wie er erzählt. "Das ZKM ist richtig wertvoll für mich, es hat mich bei vielen Projekten inspiriert."
In Karlsruhe gehören Arbeiten von Medienkünstlern zum Stadtbild, temporäre Installationen im öffentlichen Raum werden stark gefördert. Im August zeigt Fangchao Bi als Teil des Festivals "Medienkunst ist hier" im Karlsruher Schlossgarten seine neue Arbeit "The Voice of the City". Dazu baut er acht Gestelle mit Wäscheleinen im Kreis auf. Auf jede hängt er große Laken, die er mit Sensoren ausstattet. Weht der Wind, erzeugen sie einen quirlig blubbernden Elektrosound. "Stoff ist ein Material, das sehr beweglich ist. Er bietet daher viele Vibrationsmöglichkeiten. Ich nutze technische Tools, damit der Stoff eine Stimme bekommt, seine Geschichte erzählen kann."
Diese Arbeit habe er entworfen, nachdem er den UN-Klimabericht von 2021 gelesen hatte. Plastik mache 85 Prozent des marinen Mülls aus, die Menge des im Meer schwimmenden Plastiks soll sich bis ins Jahr 2030 fast verdreifachen. "Wale, Delfine, Möwen oder Meeresschildkröten können sich daran vergiften oder daran ersticken."
Die Laken sind mit maritimen Motiven versehen, mit Ankern, Leuchttürmen und Steuerrädern. Die Fäden, aus denen die Laken gewoben sind, wurden aus Meeresmüll recycelt. "Alle Materialen dafür kommen aus den Ozeanen", erzählt Fangchao Bi. Darunter sind angespülte Fischernetze, Zigarettenstummel, Plastiktüten und Flaschen. Sie werden gesammelt und zu Fäden verarbeitet. "Im Vergleich zu traditionellen Industrien ist das Ozeanrecycling noch unbekannt und unterentwickelt. Durch meine Arbeit möchte ich mehr Menschen helfen, es zu verstehen, die Nachfrage zu steigern und hoffentlich den Ozean sauberer zu machen."
Als Kind sei er an sonnigen Tagen gerne zwischen der aufgehängten Wäsche umhergelaufen. "Wenn die Sonne besonders gut steht, habe ich immer das Gefühl, dass es viel Hoffnung gibt."
"The Voice of the City" von Fangchao Bi ist als Teil des Festivals "Medienkunst ist hier" ab August im Karlsruher Schlossgarten zu sehen. Infos: cityofmediaarts.de
Anna-Lina Helsen
Anna-Lina Helsen streicht mit dem Mikrofon über sandfarbene Steine, die sie in einem Gebirgsfluss in der Auvergne aufgesammelt hat. Das klingt lustig, wie eine Mischung aus rauschender Regenrinne und einem schläfrigen Kratzen am Kopf. Die Multimediakünstlerin, schwarze Strickjacke und lange dunkelblonde Locken, die untere Hälfte rosa, sitzt in ihrem Atelier in einem Karlsruher Hinterhof. Unter langen Neonröhren und einer hohen Decke sammelt sie Soundsamples.
Andere hat sie im Pfälzerwald aufgenommen, nicht weit von Karlsruhe. "Da gibt es natürliche Sandsteintürme, das bringt so einen sphärischen, schwer zu deutenden Klang. Damit will ich Klanglandschaften generieren, die Eindrücke von Traumlandschaften hervorrufen." Die bearbeitet sie dann digital weiter. "Ich will es nicht so smooth wie ein Popsong, sondern eher rougher." Das Schöne an Multimedia-Art für sie: "Man kann sich mit Schaltkreisen Sounds zusammenbasteln, um Ideen und Assoziationen rüberzubringen, die die Betrachtenden gar nicht auf dem Schirm hatten, um sie aus ihrem Unterbewusstsein hervorzuholen."
Die Soundsamples bearbeitet sie digital weiter für eine Performance mit ihrem Soundkollektiv SBCBS, bei dem sie mit zwei chinesischen Künstlerinnen zusammenarbeitet. Helsen ist auch in China aufgewachsen, als Tochter deutscher Eltern ging sie auf eine internationale Schule, "eine in sich geschlossene Community". Aber nachmittags hing sie immer in den Art Districts in Peking ab. "Ich bin culturally confused", sagt sie.
Nach Karlsruhe kam sie wegen der hervorragenden Ausbildung. Anna-Lina Helsen hat Kunstgeschichte am Karlsruher Institut für Technologie und Kunstwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung studiert. "Die Leute kommen aus aller Welt an die Hochschule für Gestaltung und ans Karlsruher Institut für Informatik, die Kuratoren kommen von der Tate Modern zum ZKM. Die sind im Ausland viel bekannter als im Inland", sagt sie. "Man findet hier sehr coole Anschlusspunkte und ein optimales Klima für die Medienkunst."
Im August zeigt sie in Karlsruhe die interaktive Soundinstallation "Sonos Mineralis", ein Projekt, das die UNESCO Creative City of Media Arts Karlsruhe gefördert hat. Dafür hat sie Dünnschliffe aus Urzeitepochen sonifiziert. Die fast papiernen Gesteinsproben kommen aus dem Besitz des Karlsruher Naturkundemuseums. "An den Strukturen kann man erkennen, wie die Gesteinsschichten an die Erdoberfläche gelangt sind."
Sie zieht ein Foto eines Dünnschliffs hervor. Er sieht aus wie eine Stadt, die aus dem All fotografiert wurde: längliche braune Fasern, durchwirkt von weißen Klumpen. "Das bedeutet, dass alles durch Lavaexplosionen nach oben gelangt ist, weil es so durchmischt ist", sagt sie. "Sedimentschichten haben eine sanftere Entstehung." Die Dünnschliffe hat sie mit einer hochauflösenden Kamera fotografiert. Diese Bilder lässt sie von einer Software abtasten, die den Farbwerten Tonwerte zuweist. So entsteht ein Soundtrack der Urzeiten.
Von sechs dieser Dünnschliffe fertigt Helsen Siebdrucke an, die sie auf Holzplatten an ein Holzgestell montiert. Sensoren an den rotierbaren Platten können den Drehwinkel erkennen. Wenn die Betrachtenden die Platten bewegen, können sie ihre eigene Soundscape zusammenmischen. Der Klang kommt aus halbkugelförmigen Lautsprechern, die die Multimediakünstlerin aus Ton gebrannt hat. "Ich bin gespannt, welcher Ton aus ihnen kommt. Ich erwarte scheppernd. Die Besucher und Besucherinnen begeben sich interaktiv auf eine fiktive Zeitreise. Sie können in längst vergangene Epochen hineinhorchen wie mit einer Ausweitung ihres Gehörsinns", erklärt Helsen. "Ich folge darin Marshall McLuhan, der die ‚Extensions of Man‘ beobachtet hat, die sensorische Erweiterung des menschlichen Nervensystems durch Technik."
Die hat sie 2021 in einer Gruppenarbeit besonders stark ausgeweitet: bis ins All. "Encounter in the Dawn" war im litauischen Pavillon auf der Architekturbiennale zu sehen. "Wir haben die Besucherinnen und Besucher durch eine Art Portal in den Weltraum geschickt", erzählt die Künstlerin. Die konnten auf Monitoren visuell aufgearbeitete Informationen eines Satelliten sehen und die Klänge umgewandelter Weltraumdaten hören.
Anna-Lina Helsen hat sich um das Olfaktorische gekümmert. Dafür hat sie sich mit Olafur Eliassons Geruchstunnel im Botanischen Garten Gütersloh aus dem Jahr 2000 beschäftigt, der mit Kräutern und Blumen arbeitet. Für Gerüche interessiert sie sich, weil sie unsere Erinnerungen und Assoziationen ganz besonders stark triggern. "Das ist ein sehr intensiver sensorischer Input mit einer richtig krassen Reaktion, die man nicht kontrollieren kann. Die kommt urplötzlich über uns und katapultiert uns in andere Sphären", sagt sie. "Warum das so ist und wie das geht, hat man bis heute noch nicht so richtig verstanden."
Für ihren Weltraumduft hat sie die Beschreibungen von Astronauten studiert. Das All riecht offenbar nach verbranntem Steak, Mandelplätzchen und Schwarzpulver. Um die Gerüche zu extrahieren, konnte sie das Labor-Equipment im Bio Design Lab der Hochschule für Gestaltung nutzen. Diesen Duft ließ sie im 15-Minuten-Takt in die Ausstellung sprühen: "Lecker hat’s nicht gerochen."