Die Pandemie hat zahlreiche Kunstveranstaltungen in die heimischen vier Wände befördert. "Umwelten" ist eine der wenigen, die dadurch tatsächlich aufregender geworden sind. Statt wie ursprünglich geplant im Berliner Konzerthaus lässt sich die interaktive virtuelle Klangwelt, die der Komponist Mark Barden gemeinsam mit Musiker und 3D-Designer Julián Bonequi entwickelt hat, nun zuhause erleben. Möglich gemacht wird das durch Virtual-Reality-Brillen, die per Losverfahren ausgewählten Interessenten aus Berlin direkt an die Wohnungstür geliefert werden.
Ich nehme die schwarze Kiste entgegen, winke dem Kurier. Drei Tage lang habe ich die Oculus Rift samt Kopfhörern und Controllern jetzt ganz für mich allein. Luxuriös viel Zeit, gerade im Anbetracht der zuverlässig langen Schlangen in den Ausstellungsräumen, die mich bislang davon abgehalten haben, tief in VR-Kunstwerke abzutauchen. Im Setup-Modus sehe ich mein vertrautes WG-Zimmer in körnigem Schwarzweiß, kurz darauf verschwindet es ganz und weicht einer Welt aus schillernden Gewächsen, riesigen Tentakel-Wesen und biomorphen Formationen.
"Umwelten" heißt das Ganze, weil es eben mehr als eine einzige mögliche Spielumgebung gibt. Bevor es losgeht, kann ich mit meinen Controllern auswählen, wie sich meine Umgebung anfühlen soll: smooth, schroff, ätherisch oder massiv. Wähle ich schroff, erstreckt sich das Universum, das meine kleine Insel umgibt, in endlosem Schwarz; im ätherischen Modus ist der Horizont babyblau und zartrosa. Der pastellfarbene Himmel spendet mir auf meinem wundersamen Eiland, das von organischen Planeten und überdimensionalen Quallen umkreist wird, immerhin ein wenig Beruhigung. Bonequi hat eine Symbiose aus Tiefsee und Weltall geschaffen - zwei für den Menschen lebensfeindliche Räume, die ob ihrer Unergründlichkeit als Schauplatz zahlreicher zeitgenössischer Mythologien dienen.
Vibratoren auf Trommelfellen
Die Kulisse wird untermalt von sphärischen Geräuschen und dissonanten Klängen, die Mark Barden gemeinsam mit dem Konzerthausorchester eingespielt hat. Im Making-of-Video sind die Klangexperimente zu sehen, mit deren Hilfe sie produziert wurden: Die Musikerinnen und Musiker lassen Vibratoren über Trommelfelle und Geigenbögen über Styroporblöcke wandern, wickeln Alufolie um das untere Ende ihrer Oboen und schlagen mit Taktstöcken auf Eierschalen. Das Ganze erinnert an Bruitage, und tatsächlich klingt das Ergebnis mehr nach der Sounduntermalung eines Science-Fiction-Films als nach dem Jubiläumskonzert einer 200-jährigen Institution.
Wie genau meine Umgebung klingt, kann ich selbst beeinflussen. Ich kann mit Laserstrahlen auf die korallenartigen Planeten in meinem Orbit zielen, kann die Gewächse um mich herum berühren und violett schimmernde Kugeln von herabhängenden Lianen pflücken und so Geräusche erzeugen. Jede meiner Handlungen, erklärt Baden, hat direkte Konsequenzen für meine Umwelt - ein programmatischer Aphorismus mit politischen Untertönen. Welche der zahlreichen Klänge, die mich umgeben, ich tatsächlich selbst erzeugt habe, erschließt sich mir jedoch nicht wirklich. Ohnehin wird die Geräuschkulisse meist von der mich komplett umschließenden visuellen Ebene übertönt.
Wie auch im All und in den Tiefen des Meers funktioniert die Schwerkraft hier anders. Wenn ich die Kugeln in meiner Hand loslasse, schweben sie langsam davon. Ich frage mich, ob es an den noch bestehenden Limitationen der Technik oder an der ewigen Faszination der unergründlichen Weiten liegt, dass sich die meisten begehbaren VR-Kunstwerke, denen ich bislang begegnet bin, sich gerade an diesen beiden Orten außerhalb der menschlichen Erreichbarkeit situieren. Nach einer langen Weile setze ich meinen Astronautenhelm aus VR-Brille und Kopfhörern wieder ab. Vor meinem Fenster strahlt der Himmel wolkenlos blau - einen Moment lang hatte ich das ganz vergessen.