Künstler Korakrit Arunanondchai

"Beim Eintritt des Todes sang ich für meinen Großvater"

Korakrit Arunanondchai macht Kunst, die zu neuen Daseinsmöglichkeiten inspiriert. Ein Gespräch mit dem in New York lebenden Thailänder über Tintenfischtentakel, Freitauchen, Drohne Chantri, den Tod seines Großvaters und weitere Grenzerfahrungen

Korakrit Arunanondchai, in Ihren Arbeiten verschmelzen Myriaden von Themen, rhythmisch, ästhetisch, relevant: Wie ist es, Korakrit Arunanondchai zu sein?

Immer wieder anders. Wie ein Blatt im Wind. Oft fühle ich mich auch wie ein Schwamm. Der hat ebenfalls eine Form, wird aber stark von seinem Kontext beeinflusst, dem Ort, dem Wetter, der Luftfeuchtigkeit. Also etwas zwischen einem Blatt und einem Schwamm.

Der Titel Ihrer Ausstellung in Zürich, "Songs for Dying / Songs for Living", hört sich existenziell an, irgendwie auch positiv und negativ ...

Ich denke nie in solchen Kategorien. Für mich gibt es keinen bestimmten Zustand von positiv, negativ, binär oder so. Die neue Ausstellung spricht das transformative Potenzial von Geburt, Kreation und Dekreation, Tod an. Tod oder Leben, es spielt auch keine Rolle, in welchem Raum man beginnt: Ein Video dreht sich um Auflösung und Zerfall, das andere um Fleisch oder Fleischwerdung.

Fleischwerdung?

"Songs for Living" zeigt, wie ich die Reorganisation in New York nach dem Lockdown empfunden habe. Wegen der Pandemie saß ich ein Jahr in Thailand fest. In der Zeit löste ich meine Studios in Brooklyn und China Town auf, wo ich jahrelang arbeitete und lebte. Ich fragte mich: Wie können die Geister wieder ins Fleisch zurückkehren, wie kann man sein Wesen an einem veränderten Ort neu materialisieren? Welche künstlerischen Mittel bieten sich dazu an? Mit meinem Kollaberationspartner in New York, dem Künstler Alex Gvojic, tauschte ich mich von Küste zu Küste aus.

Und?

Es braucht Musik, die im Körper einfährt. Für "Songs for Living" wollte ich weniger digitale Musik, dafür mehr Spoken Words und analoge Instrumente. Als ich 2005 nach Amerika kam, besuchte ich die Rhode Island School of Design in Providence. Dort gab es eine Noise- und Warehouse-Szene, die mich sehr prägte. Aus dieser konnte ich etwa den Schlagzeuger Brian Chippendale von der Band Lightning Bolt aktivieren. Durch seinen melodischen Lärm wird man selber zum Klangkörper. 

Im Trailer trinken Sie aus einem Blutbeutel. Finger erscheinen wie Tentakel im Wasser mit Farbwolken. Tatsächlich hat ein Tintenfisch eine Hauptrolle. Weshalb?

Für mich sind Tentakel eine Metapher für den Raum zwischen Apparaten, das unsichtbare Kommunikationsnetz, und die Tinte könnte die Botschaft symbolisieren. Es handelt sich übrigens um einen Vampirtintenfisch. Eine Inspirationsquelle war Vilém Flusser. In seinem Buch "Vampyroteuthis infernalis" entwickelt er eine Art Ontologie um das Wesen. Er schreibt, der uns trennende Abgrund sei unvergleichbar kleiner als jener, der uns von den Lebewesen des Alls trenne, von denen die Science-Fiction berichte und nach denen die Astrobiologie forsche. Die gleiche Grundstruktur informiere unsere Körper.

Wie fanden Sie zum Medienphilosophen?

Erinnerung, Algorithmen, der Google-Ozean. Seine Tiefseekreatur leuchtet ja von sich aus. Ich sehe darin eine Parallele zu dem, was ich in den Videos versuche: Licht zur Materialisierung von Metaphysischem einsetzen. Ich erlebte Tintenfische in Thailand. Es war magisch wie im Dokumentarfilm "Mein Lehrer, der Krake". Einen Tentakel zu berühren ist, als ob man Zugang zu etwas Übernatürlichem bekäme.

In "Songs for Dying" reichen Sie Ihrem sterbenden Großvater die Hand. Wie war das für Sie?

Das Video entstand, weil ich den gesamten Prozess zeigen wollte. Zehn Jahre zuvor verlor er sein Kurzzeitgedächtnis. Mit der Kamera versuchte ich, die Erlebnisse wach zu halten. Ich war also gut vorbereitet, als die Frequenzen auf dem Monitor auswellten. Beim Eintreten des Todes sang ich für ihn. Der Glaube, das Leben: 200.000 Jahre Kultur sind auf diesen Moment hin aufgebaut – und verlängern ihn dann.

Dazu wird der Satz eingeblendet "How many Lives do I have to live to see you again?". Wie war die Beziehung zu ihm?

Er zog mich auf, ähnlich wie ein Elternteil. Viele Asiaten, überhaupt Menschen des Globalen Südens, leben mit mehreren Generationen zusammen. Am meisten prägte mich aber die Mutter, welche wiederum von Großvater beeinflusst war. Als Teil der Familie kann ich ihn nicht von meinem Kunstwerk trennen. Meine Mutter spricht in mehreren Videos. Auch mein Zwillingsbruder übernimmt Rollen.

Auf die Zeremonie folgt zu lautem Sound ein Zeitraffer mit verschiedensten Realitäten. 

Ich versuche, ein persönliches Gefühl, eine persönliche Erfahrung mit einer größeren Dramatik in Beziehung zu bringen. Der Tod eines Familienmitglieds, gleichzeitig prodemokratische Proteste in Thailand. Dazu historische Bilder vom Massaker an den aufständischen Bewohnern der südkoreanischen "Ferieninsel" Jeju: 30.000 Männer wurden vor rund 70 Jahren ermordet. Bis 2000 durfte niemand darüber reden. Es ist immer ein Mikro im Makro oder ein Makro im Mikro.

Fühlen Sie sich in Bangkok frei, Ihre Meinung zu äußern?

Nein, definitiv nicht. Thailand hat viele Gesetze, welche Diskussionen über Monarchie, Regierung und Militär verhindern sollen. Hinzu kommt, dass alles miteinander verbunden ist: Monarchie und Militär ebenso wie Kultur, Buddhismus und Kapital. Das fühlt sich einschränkend an, deshalb protestieren die Leute ja auch. Aber manchmal wächst die schönste Blume unter schwierigsten Bedingungen.

Einmal der Enkel, dann der Bangkok-Denim-Gang-Leader, der später mit Drohne Chantri auf einer Schrotthalde zu "Nice Dream we built together, right? Made up of Mountains of broken Hard Drives" sinniert: eine große Bandbreite! Immer authentisch?

Ja, mein Körper ist wie ein Angebot, ein physisches Storytelling, das sich durch die Arbeiten zieht. Ich sehe mich als eine Art Kanal oder Medium. Körper, Objekte oder Filme sind künstlerische Medien, um Ideen und Lebensgefühlen eine erzählerische Form zu geben. Und Drohne Chantri steht für einen Geist, die Personifizierung eines unsichtbaren Systems.

Woher kommen denn die Eingebungen?

Zum Beispiel von Texten: bei "Songs for Dying" sprechen buddhistische Mönche, Phrasen von prodemokratischen Aktivisten in Bangkok werden eingeblendet. Bei "Songs for Living" zitiere ich neben Flusser auch aus Simone Weils "Gravity and Grace" oder Merlin Stones "When God was a Woman". Aber es geht über Texte hinaus. Ich mag es, mit der Performancekünstlerin Tosh Basco, zuvor bekannt als boychild, Welten zu erschaffen.

Im Hamburger Bahnhof in Berlin lief Ihr Video "Painting with History in a Room filled with People with funny Names #3". Zu Beginn stehen Sie in Jeans und mit bemaltem Oberkörper vor einem See. Die folgenden 25 Minuten berauschen wie ein LSD-Trip. Wie machen Sie das?

Schön zu hören. Ein LSD-Trip puscht einen ja in einen Zustand extremer Intensität. Dieser wird durch verschiedene Dimensionen erreicht. Alles, kleinste Details wie größere Zusammenhänge, bekommt die gleiche Aufmerksamkeit. Auch das Video ist so angelegt, dass unterschiedliche Dimensionen des Menschseins auf einer Linie erscheinen. Vielleicht hat der Gesamteffekt diese LSD-artige Wirkung.

Offenbar meditieren Sie auch mit buddhistischen Mönchen.

Das ist in Thailand fast normal. Man betritt einen Tempel und betet zusammen. Für mich ist meditieren, wenn ich mit jemandem spreche, etwa dieses Interview gebe. Meditation als spirituelle Praxis fühlt sich wissenschaftlich an, als ob man fürs eigene Bewusstsein ins Fitnessstudio gehen würde. Zudem möchte ich einen Teil des Spirituellen undefiniert lassen. In "Songs for Living" symbolisiert der Ozean einen solchen Raum, zu dem wir keinen physischen Zugang haben, dafür über mentale Projektionen. That is the space of creation and decreation.

Sie tauchen auch bewusst in Meerestiefen.

Ja, am liebsten würde ich jeden Tag ohne Geräte tauchen. Beim Freitauchen geht es um die Kontrolle des Atmens, den Sauerstoff im Körper. Je mehr man sich physischen Grenzen nähert, desto spiritueller wird es. Es ist, als ob der Kosmos in einem wäre, zumindest ein Teil davon. Es gibt aber eine Schwelle, die man nicht passieren soll, weil einem die Luft ausgeht.

In einem Video animieren Sie dazu, einfach zu lachen, irgendwo im Wald, ohne Grund und Erwartung. Und dann schauen, was sich ereignet. Sollten wir öfter lustig sein, verrückter?

Das tue ich manchmal sogar mitten in New York. Lachen eröffnet neue Sichtweisen. Doch der Mechanimus, wie "positiver" Raum geschaffen wird, ist ein bisschen komplexer. Und inzwischen muss man sagen, "geht weniger in die Natur, geht mehr zu den Menschen!" "Songs for Living" hat mehr als Konzept, Leute aus den Wäldern und den Meeren zu holen. Denn wir müssen die Natur mehr alleine lassen, sie in uns finden. Als Zeitgenosse fühle ich mich zunehmend schuldig, bei all dem, was ich über Anthropozän und die menschliche Interaktion mit der Natur lerne.

In was für einer Umwelt möchten Sie in zehn Jahren leben?

In einer, die um mich herum nicht kollabiert. Zukunft hat für mich weniger mit Progress, als mit Auflösen zu tun: weniger materielle Schichten hinzufügen, mehr Schichten abbauen. Auch wenn New York weniger komfortabel ist, ich schätze den Ort mehr als je zuvor, die Erneuerungsfähigkeit in kleinsten Dingen, welche New York zu New York machen. Nur schon die Elektromobil-Varianten, die inzwischen herumschwirren.

An der Art Basel verkauften Sie für rund 60.000 Schweizer Franken eines Ihrer Feuerbilder. Dazu malen Sie auf Denim, zünden ihn an, nehmen den Prozess mit der Kamera auf und legen danach alle Schichten übereinander. Feuer, mehrdimensional, ein heißes Thema!

Feuer gehört zu den wichtigsten Kräften im Leben. Wenn es in der Natur bei Waldbränden vorkommt, verstehe ich das als extremes Zeichen, sich etwas bewusst zu werden. Auf meinen Bildern erscheint das Feuer als entscheidender Schritt in der Evolution: Kulturen, Rituale, Lieder und Tänze entwickelten sich um das Feuer.

Mit dem Klangtüftler Aaron David Ross, der häufig das Sounddesign für Ihre Videos macht, veröffentlichten Sie eben auf Spotify die stimmungsvolle Compilation "Songs I’m Trying To Remember". Was ist eine perfekte Party?

Derzeit jene, die stattfindet! Einfach eine Party, an der sich Leute vergnügen und zusammen kommen können, um diesen kathartischen Moment zu erleben.