Wenn es um die höchste Displaydichte pro Kopf geht, dann dürfte die südkoreanische Hauptstadt Seoul weltweit ganz oben stehen. Gigantische LED-Screens flackern allerorts in belebten Gegenden wie Myeongdong oder Hongdae. Restaurants bewerben ihre Produkte via Videobildschirm und auch in den U-Bahnhöfen schimmern und flirren Displays, um zu informieren, wann der nächste Zug kommt oder um schnell geschnittene Werbespots zu präsentieren.
Dabei interessiert das die Menschen aus Seoul nicht im Geringsten. Sie gucken derweil lieber auf die kleinen eigenen Rechtecke ihrer Smartphones. Nachts ist Seoul ein greller Lichtkegel aus typografischem Neon-Chaos und Science-Fiction-mäßiger Ausleuchtung. Das Land ist stolz auf seine Displays. Die meisten Fernseher und Handy-Oberflächen kommen heute aus koreanischer Fertigung. Die omnipräsenten Interfaces in der Hauptstadt suggerieren Fortschritt, Technologie-Optimismus und rasantes Wachstum.
Die vergangenen Wochen habe ich mit meiner Familie in Südkorea verbracht. Ich kenne das Land aus einigen Reisen in meinem Leben eigentlich ganz gut. Fixpunkt dabei ist stets meine große Verwandtschaft. Wie tröstend es doch immer wieder ist, diese bedingungslose Liebe und den familiären Zusammenhalt zu spüren, egal wie viele Jahre zwischen den Treffen vergangen sind.
Das Lieblingscafé ist auf einmal verschwunden
Dabei verändert sich das Land so schnell und permanent, dass selbst Einheimische mit dem Tempo nicht Schritt halten können. Das Lieblingscafé um die Ecke, das man vor paar Wochen noch besucht hat, kann einfach mal verschwinden, weil es durch Hyperhochhäuser, Apartment-Komplexe und neue breite Straßenzüge ersetzt wird. Ganze Ausgehviertel mit engen Gassen und Restaurants lösen sich in Luft auf und weichen hochmodernen Protzbauten.
Eine meiner Tanten berichtete, dass sich Gegenden so schnell verändern, dass sie manchmal ihre Arbeitsstätte suchen muss, weil sich drumherum nichts mehr wiedererkennen lässt. Ich war über zehn Jahre nicht mehr in dem Land und musste mich oft fragen, ob ich in bestimmten Bezirken überhaupt schonmal gewesen bin oder ob es doch erste Anzeichen einer Midlife-Demenz gibt.
Aus Berlin kennt man das natürlich auch, dass ein neuer hipper Laden aufmacht und einem beim besten Willen nicht einfällt, was davor darin gewesen ist. In Südkorea ist die Geschwindigkeit im Alltag eine andere. Ich möchte fast sagen, rücksichtsloser. Nach einigen Tagen Rückkehr nach Berlin wundere ich mich immer noch, wie ruhig, stetig und provinziell es hier doch eigentlich ist. Der wirtschaftliche Wohlstand in Korea explodierte in den vergangenen 20 Jahren. Firmen wie Samsung und LG gehören zu den größten Technologieunternehmen der Welt.
Sehnsuchtsort vieler junger Menschen
Da das Land über keine nennenswerten Rohstoffe wie Öl oder Gas verfügt, sind die hart arbeitenden Menschen die eigentliche Ressource des Landes. So gibt es heute zum einen weltweit gut funktionierende Industrien wie Halbleiter, Hardware, Autos und Elektronik, aber auch eine prosperierende Kulturindustrie, die auf globale Export-Hits wie K-Pop und K-Drama setzt.
Aber auch K-Beauty, Webtoons und K-Food spielen in der sogenannten Hallyu/"Korean Wave" eine Rolle. Südkorea ist heute nicht nur wegen erfolgreicher Pop-Acts wie BTS und Blackpink zum Sehnsuchtsort vieler junger Menschen aus aller Welt geworden.
Die Halbinsel ist verhältnismäßig klein und rund ein Viertel der Bevölkerung lebt in Seoul. Heute kann es sich kaum noch jemand leisten in der Stadt zu leben. Auch die meisten meiner Verwandten, die vor 15 Jahren noch alle in der Hauptstadt lebten, wohnen nun in außenliegenden Städten wie Gimpo, Ansan oder Incheon, die sich ebenfalls ständig wandeln und dabei expandieren.
Grelles und glänzendes Spektakel
An der Oberfläche ist das grelle und glänzende Spektakel hypnotisch und faszinierend. Die Menschen sehen alle unfassbar toll aus, es ist stylish und poppig, überall rauschen Entertainment und Konsum. Andererseits stellt sich die Frage, ob es hier nicht ein technologischer Fortschritt ist, der für die Menschen vielleicht gar zu schnell ist. Dass wir als biologische Wesen evolutionsmäßig gar nicht schnell genug adaptieren können, um uns an die ständig neuen Umgebungen anzupassen. Denn Verlierer und Abgehängte gibt es in dem Land viele.
Südkorea ist das OECD-Land mit der höchsten Altersarmut. Zeitgleich hat es die niedrigste Geburtenrate weltweit. Das Land steht – wie Japan und China auch – vor einem demografischen Kollaps. Junge Menschen entscheiden sich heute bewusst gegen eine Familiengründung und Kinder, weil sie kaum in der Lage sind, für ihr eigenes Leben aufzukommen. Wahrscheinlich aber auch, weil sie selber erlebt haben, wie sich ihre eigenen Eltern aufgeopfert haben, um ihnen eine akademische Ausbildung zu ermöglichen. Die Regierung versucht nun gegenzusteuern und verspricht jungen Familien eine Einmalzahlung von rund 1800 Euro für die Geburt eines Kindes. Ein kleiner Tropfen auf frischer Lava.
Denn, und darauf möchte ich hinaus, hat sich derweil im Wertesystem dieses Landes in den vergangenen Jahrzehnten nicht allzu viel getan. Im Marketing-Slang heißt es zwar immer wieder, dass Korea ein Land sei, das zwischen "Tradition und Moderne" aufblühe, aber das ist ein irreführendes und euphemistisches Image, das hier zugeschrieben wird.
Alls hat seinen Preis
Die koreanische Gesellschaft funktioniert traditionell konformistisch und konservativ. Lebensläufe haben nach vorgeschriebenem Plan zu verlaufen und geschlechterspezifische Rollenbilder stammen noch immer aus dem letzten Jahrhundert. Es braucht neben dem Vollsprint eben auch Zeit für Ruhepausen und Reflexionen, um gesellschaftlich Fortschritte zu machen und kollektive Entwicklungen zu erzielen. Zeit für Pausen gibt es hier aber so gut wie keine.
Der Philosoph Byung-Chul Han beschrieb das vor einigen Jahren auch schon in seinem Buch "Die Müdigkeitsgesellschaft". Individualismus, selbstbestimmte Lebenskonzepte, Exzentrik, uneheliche Kinder und Patchwork-Familien werden nicht akzeptiert. Weshalb viele junge Koreaner:innen nach Europa und Amerika ziehen. Auch in Berlin leben immer mehr koreanische Kreative, die dem Effizienz- und Leistungsdruck-Korsett ihrer Heimat entfliehen wollen. Hier dafür mit anderen existenziellen Problemen konfrontiert werden.
Seoul ist eine unfassbar sichere, disziplinierte und saubere Stadt, dafür sorgen allerdings auch landesweit rund acht Millionen Überwachungskameras. Dinge haben eben immer ihren Preis. Die rasante Digitalisierung, Vernetzung und technologischer Fortschritt haben Südkorea ohne Frage viel Wohlstand und internationales Renommee eingebracht. Beizeiten wirkt es aber auch als sei es ein führerloser Hochgeschwindigkeitszug wie in dem Film "Snowpiercer" von Bong Joon-Ho.
Es war nicht alles schlecht
Ein Onkel von mir, der viele Jahre in Deutschland lebte und wieder zurückkehrte, berichtete, wie fragil das System in Korea eigentlich sei und wie wichtig es für eine Gesellschaft ist, dass es so etwas wie staatliche Renten, Kindergeld, Sozialhilfe und Krankenversicherungen gibt. Zwar wird in Deutschland und Europa gerne jeder Stein zehnmal umgedreht, um sich dann am Ende doch für nichts zu entscheiden. Und es ist auch richtig, dass gerade in den Bereichen Digitalisierung einige Startschüsse verschlafen wurden.
Wenn man den direkten Vergleich wagt, dann ist eventuell aber auch nicht alles daran schlecht gewesen. Gewachsener Fortschritt braucht einfach auch seine Zeit und Technologien machen nicht per se die Welt zu einer besseren.