Wo sind wir zu Hause? Wo wir geboren sind, wo wir wohnen oder vielleicht doch in den Beziehungen mit den uns nahestehenden Menschen? Für die in Deutschland lebende, russisch-jüdische Mascha aus Baku ist die Antwort auf diese Frage nicht leicht. In "Der Russe ist einer, der Birken liebt" von Pola Beck, einer Verfilmung des gleichnamigen Romanerfolgs von Olga Grjasnowa, sucht die schlagfertige Hauptfigur an verschiedenen Orten: auf Partys, in Freundschaften und Liebesbeziehungen – und im jüdischen Staat Israel.
Der Prolog, ganz in warmen Tönen gehalten, bildet die glückliche Antithese zum tragisch verlaufenden Rest des Films, in dem Maschas Freund und große Liebe Elias (Slavko Popadic) nach langem Krankenhausaufenthalt an den Folgen eines Unfalls stirbt. Doch schon da brodelt etwas in der von Aylin Tezel überragend gespielten Figur. Filmisch drückt sich Maschas Zerrissenheit in der elliptischen Erzählweise aus. Wie Erinnerungsfetzen springt die Erzählung in kurzen Schnipseln antizyklisch zwischen Momenten vor und nach Elias' Tod vor und zurück. Dazwischen entzerren Szenen, in denen Maschas Verlorenheit spürbar wird, die Handlung. Sie taucht im tiefblauen Meer unter oder sitzt in einer schummrigen Küche mit warmem Licht. Blau und Gelb, wie Meer und Sand, Nacht und Sonne, Köln und Tel Aviv, bilden das leitende Farbkonzept.
Ungelöste Fragen
Sowohl ihren Freunden als auch den Zuschauerinnen und Zuschauern bleibt Mascha trotz der Momente, in denen man mit der Figur alleine ist, verschlossen. Warum verliert die eigentlich so kühle Frau ihre Fassung, wenn es um die körperlicher Versehrtheit ihrer Liebsten geht, lässt alles stehen und liegen, um zu ihnen zu eilen? Es werden nur kleine Erklärungen geboten: der Tod der Eltern, der Krieg in Bergkarabach, Diskriminierung, Flucht. Eine endgültige Aufklärung bleibt der Film jedoch schuldig. Dafür kommen neben der eigentlichen Handlung immer wieder hochaktuelle Themen auf. Die Dreiecksbeziehung zwischen Mascha, dem deutschen Elias und ihrem nicht-deutschen Exfreund Sami (Bardo Böhlefeld), rückt die Frage nach Möglichkeiten des Verständnisses von Migrationserfahrung ins Zentrum. Ist es dem wohlbehütet aufgewachsene Elias möglich, Mascha und ihre Identitätssuche zu verstehen? Kann Sami, der zwar ebenso mit Fragen der Heimatlosigkeit konfrontiert ist, aber eine ganz andere Migrationsgeschichte als Mascha mitbringt, das besser?
Auf einer Party berichtet Sami, dass er vorerst nicht zurück an seinen Studienort in den USA kann, weil sein Visum nicht verlängert wurde. Wegen seines muslimischen Namens? Sami wird zur Symbolfigur für die US-amerikanischer Migrationspolitik. In der Szene zeigt sich das Talent Pola Becks, ein so großes Thema wie dieses in wenige Bilder zu kondensieren. So auch bei Mascha: Trotz der vielen Krisen und Traumata arbeitet die angehende Dolmetscherin hart für ihre Karriere, übt in jeder freien Minute. Der Satz, den viele Personen in Deutschland mit migrantischer Familiengeschichte nur zu gut kennen, hallt in ihrer Figur nach: "Du musst dich mehr anstrengen als die anderen, um gleich gut zu sein." Die deutsche Mehrheitsgesellschaft bekommt in Form der Figuren von Elias' deutschen Eltern ihr Fett weg. Diese bemühen sich nach dem Tod ihres Sohnes darum, Mascha bloß nichts von Elias Hab und Gut aus der gemeinsamen Wohnung zu überlassen. Ganz in der Sorge, von einer Migrantin bestohlen zu werden, zeichnen sie das Bild der sich als weltgewandt inszenierenden Eltern nach, deren Weltoffenheit sich am Ende auf den griechisch-antiken Namen ihres Kindes beschränkt.
Was bedeutet Herkunft?
Maschas Aufenthalt in Tel Aviv, wohin sie sich nach Elias' Tod flüchtet, bietet dem Film die Möglichkeit, die politische Situation Israels zu beleuchten. "Soldiers are here better then poets", erklärt ihr die hippe Tal (gespielt von Yuval Scharf), in die sich Mascha kurz nach ihrer Ankunft verliebt – Soldaten sind hier wichtiger als Dichter. Das Bild von Krieg verschiebt sich, wer zu lieben ist und wer zu fürchten. Auch Maschas Identitätssuche wird in dem jüdischen Staat zum Thema. Ständig fragt sie, ob sie jüdisch aussähe und spricht bittere Gedanken aus, die auch nach dem Kinobesuch nachwirken: Lässt sich am Äußeren einer Person ihre Nationalzugehörigkeit erkennen? Was bedeutete Herkunft – besonders in einer Gesellschaft, die von mehrfacher Migration geprägt ist?
Pola Becks Film lässt sich jedoch nicht nur auf fiktional verpackten antirassistischen Aktivismus reduzieren. Er erzählt über unsere Gegenwart, über junge Menschen mit und ohne Waschmaschine, über Bindungsängste, queeres Leben und die Flucht in den Rausch. Dabei verliert er sich allerdings an einigen Stellen in ausschweifenden Partyszenen. Anfangs erzeugen die eine urbane Stimmung, durch die mehrfache Wiederholung wirken sie irgendwann nur noch trostlos. Trotz der diversen Charaktere und Erzählstränge fehlt es der Verfilmung des Romans stellenweise an Tiefe. In der Bucherzählung nutzt die Autorin Olga Grjasnowa die wenig komplexe Handlung, um über den verworrenen Bergkarabach-Konflikt zu schreiben. Ohne den Konflikt, der im Film nur am Rande angeschnitten wird, verliert die Geschichte an Dichte.
Das, was das Buch vorantreibt, verwischt hier zur Nebensache. Der militärische Konflikt um Bergkarabach flammt bis heute immer wieder auf, zuletzt im September dieses Jahres. Es wäre durchaus gesellschaftlich relevant gewesen, ihm mehr Raum zu geben. Anders als das Buch endet Becks Verfilmung mit einem positiven Ausblick. Bei einem Streifen mit so viel subversivem Potenzial eine verpasste Chance.