Als sich im Frühjahr 2020 weltweit die Wohnungstüren schlossen und persönliche Begegnungen zum Sicherheitsrisiko wurden, war zu erwarten, dass diese Zeit der unfreiwilligen Vereinzelung eine ganze Weile als Inspirationsquelle für künstlerisches Schaffen dienen dürfte. Schließlich stellen in der Pandemie drängend gewordene Fragen hinsichtlich Austausch, Modi der Produktion oder Präsentationsmöglichkeiten für Kunstschaffende wichtige Pole der eigenen Selbstpositionierung dar.
Neben Kontaktbeschränkungen überwindenden Ausflügen in die Digitalität oder den öffentlichen Raum beschränkten sich in dieser Zeit viele auf das selbstständige Schaffen im eigenen Atelier. Die Ergebnisse zeigen sich in den letzten Monaten vermehrt im aktuellen Ausstellungsbetrieb. Die Qualität und Relevanz dieses Corona-Outputs schwankt. Doch können sich gerade bei Künstlerinnen und Künstlern, deren Praxis sich wie im Falle der in New York lebenden Malerin Kerstin Brätsch in dieser Zeit gezwungenermaßen weiterentwickeln musste, anregende Werkgruppen ergeben – häufig mit einem neuen Blick auf bisher Geschaffenes.
Ihre aktuell im Aachener Ludwig Forum gezeigte Serie "Para Psychics" bildet einen Gegensatz zu den bisherigen, Autorschaft und Gattungsgrenzen hinterfragenden Malereien. Während diese versuchten – mal in der Aneignung traditioneller Kunsthandwerkstechniken, mal in der arbeitsteiligen Produktion mit anderen Kreativen – die Möglichkeiten zeitgemäßer Leinwandkunst auszuloten, konzentrierte sich Brätsch ab Januar 2020 für mehr als zwei Jahre auf Öl- und Farbstift-Zeichnungen immer gleichen kleinen Formats.
Alternative Prozesse der Wahrheitsfindung
Anders, als der Hinweis auf die zurückgenommene Geste einfacher Papierarbeiten vermuten lässt, erschöpft sich die Covid-Beschäftigung jedoch nicht in der Hinwendung zu reduzierter Technik und unscheinbarem Format: Wirken die 100 Blätter auf den ersten Blick formal sehr ähnlich, ergibt sich, je tiefer man in die kaleidoskopischen Bildwelten der Malerin hineingezogen wird, ein scheinbar unerschöpflicher Kosmos aus sich vermischenden, überlagernden und gegenseitig auslöschenden Ornamenten, Körpern und Farben.
Ihr im Werden begriffener, sich von Zeichnung zu Zeichnung morphender Mix aus Figurativem und Abstraktem verbindet geometrische Muster mit Fragmenten kunst- und kulturhistorischer Vorbilder. Das thematische Kreisen um überirdische Ahnungen und mystischen Welten – allgemeiner gesprochen also alternative Prozesse der Wahrheitsfindung – eint die Serie. Doch entziehen sich die Motive, deren Einflüsse laut Brätsch von vorhersagenden Tarot-Karten bis zu natürlichen Heilmethoden reichen, erfolgreich einer eindeutigen Zuordnung.
Meint man in einem Moment noch eine weibliche Silhouette – die Malerin widmete sich unter anderem Göttinnen-Darstellungen – zu erkennen, so mutiert die Form im nächsten Moment (oder der anschließenden Zeichnung) schnell zu einer stilisierten Pflanze, oder wird bruchstückhaftes Formen-Wirrwarr. Was gesehen wird, ist subjektiv und flüchtig – "Para Psychics" als überdrehter Rorschach-Test.
Entstehung individueller Wahrheiten
Doch nicht nur Besucherinnen und Besucher lädt die Auseinandersetzung mit diesen Bildern zur Befragung der eigenen Wahrnehmung und Prägung ein. Auch für die Künstlerin selbst können die Verzerrungen, Variationen und Dopplungen verschiedenster Inhalte, die sich aus ihrer zeichnerischen Collage-Technik ergeben, als Verarbeitung des durch den Lockdown getriggerten Rückbezugs auf das eigene, sich aus vielen Quellen speisende Ich gelesen werden. Die Frage, wie sich das Selbst und das Andere – besonders unter dem Eindruck der in den Bildern stetig beschworenen Spiritualität und Wahrsagerei – konstruieren, durchzieht Brätschts Serie wie die sich darauf windenden feinen Schnörkel und Kringel psychedelischer Ornamente.
In ihrer ortsspezifischen Inszenierung ergibt sich eine weitere Dimension des der realen Welt entrückten Charakters der 100 Zeichnungen: Untermalt durch eine von Wiebke Tiarks gestaltete, an verfremdete Tier- und Waldgeräusche erinnernde Soundkulisse, bespielen die Werke durch farbige Fenster in Rosa-, Gelb- und Türkistöne getauchte Räume.
Noch verstärkt wird die beinahe sakral anmutende Beleuchtungssituation durch eine gläserne Ausstellungsarchitektur, in der sich das Licht fortwährend bricht und reflektiert. Die hier geschaffenen kleinen, aber durchschaubaren Ausstellungskabinette ergänzen nicht nur die intime Entstehungsgeschichte der Papierarbeiten, sondern bieten auch die passenderweise transparente Bühne für Brätschs malerische Beschäftigung mit der Entstehung individueller Wahrheiten und Erkenntnisse.
Die in Brätschs "Para Psychics" ständige geforderte Überprüfung der eigenen Wahrnehmung samt daraus entstehender Wirklichkeiten, stimuliert dabei auch folgende Gedanken: Gibt es hellseherische Kunst? Wie könnte diese aussehen? Was lässt sich via Malerei und Zeichnung vorhersagen? Es ist nicht sicher, doch warum sollten sich in ihren Erkundungen und Bearbeitungen mystischer und spiritueller Ästhetiken keine Antworten auf diese Fragen finden?