Jonas Lund hat acht Stunden Bewerbungsgespräche vor sich. Der schwedische Künstler führt sie via Skype von seinem Studio in Berlin aus. Über 80 Bewerbungen sind bei ihm eingegangen, nachdem er mit zwei Videos im Internet nach Mitarbeitern für ein Propagandabüro suchte. Das Ziel: die Brexit-Umkehr. Die Bezahlung: 125 Pfund pro Tag.
Morgens um 10 Uhr stehe ich vor seiner Tür. Wir haben nicht lange Zeit, uns über seine Ausstellung "Operation Earnest Voice" zu unterhalten, die ab 10. Januar für vier Tage in der Photographer’s Gallery in London zu sehen sein wird, denn die Bewerber warten auf ihn. Zwölf Mitarbeiter braucht er, um das Propagandabüro in den Galerieräumen betreiben zu können. Er sucht nach Textern, Designern, Kreativen, Denkern, Fotografen, Videomachern, Meme-Machern, nach Trollen, Hackern und Programmierern, nach Twitter-Addicts, Facebook-Anzeigenexperten und Social-Media-Managern, nach ehemaligen Cambridge-Analytica-Mitarbeitern, ehemaligen Trump-Wahlkampfmitarbeitern und Genies. Nach allem, was es eben braucht, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Sein Videoaufruf sei leicht ironisch gewesen, sagt er und kratzt sich etwas verlegen an der Stirn, weil er zahlreiche sehr ernst gemeinte und gute Bewerbungen in seinem Postfach hat. Wie das kam, kann er sich nicht so recht erklären, er trägt doch diesen Strohhut im Video, sagt er – offenbar fühlte er sich damit offensichtlich genug verkleidet. Aber es gibt noch ein zweites Video, in schwarz-weiß, vielleicht war das too much, zu seriös? Lund ist unsicher.
Vielleicht ist gerade auch einfach nicht die richtige Zeit für Späße, wenn es um Politik geht, und schon gar nicht im Internet.
Als wir gemeinsam in seiner Küche saßen, das war kurz vor Ende des Jahres 2018, war der Grünen-Politiker Robert Habeck noch auf Twitter. Jetzt ist er das nicht mehr. Er hat seine Accounts auf Facebook und Twitter gelöscht und seine Entscheidung ausführlich begründet. Ein Begriff dafür wurde auch schon vorgeschlagen, vom Journalisten Dirk von Gehlen: habecken = Twitter-Slang für sich mit großem Tamtam verabschieden. Twitter färbe auf ihn ab, erklärte Habeck sich, die polemische Art, Twitter triggere etwas in ihm, es bringe ihn dazu, schreibt er, "aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein - und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen". In einem Kommentar in der "Süddeutschen Zeitung" gibt Dirk von Gehlen zu bedenken: "Als ob das ginge: Als ob man einfach nur auf 'löschen' klicken müsste und dann wäre es wieder einfach. Auf diesen Glauben setzen Populisten aller Farben und Nationen, wenn es um die Herausforderungen der Gegenwart geht: einfach raus aus der EU, einfach eine Mauer zu Mexiko bauen, einfach zurück zur D-Mark."
Für Lund war der Gedanke auch zu einfach, tatsächlich auf die Idee kommen zu können, in vier Tagen eine Umkehr vom Brexit zu bewirken. Deshalb glaubte er, dass ihm niemand glauben würde. "Es ist doch arrogant anzunehmen, dass ein linker Künstler politisch irgendetwas ändern könne", sagt er. "Wenn es mir ums Predigen ginge, würde ich in die Politik gehen." Lund muss über sich selbst lachen - jetzt ginge es jedenfalls darum, einen Mittelweg zu finden.
Immerhin, der Termin liegt gut. Eigentlich sollte schon im Dezember im Parlament über den Vertrag entschieden werden, den Premierministerin Theresa May mit der EU über den Austritt verhandelt hat. Der Termin wurde verschoben, weil das Abkommen auf viel Ablehnung stieß. Der neue Termin ist der 15. Januar, also zwei Tage nach Ende der Ausstellung. Aktuell gibt es folgende Optionen: Großbritannien verlässt mit einem Abkommen die EU. Großbritannien tritt ohne Abkommen aus (No-Deal-Brexit). Sollte keine Einigung erzielt werden, kommt es zu einem zweiten Referendum und Großbritannien bleibt womöglich in der EU. Wie in der "Zeit" zu lesen war, sagte ein Regierungssprecher, dass sich trotz des Ergebnisses der Fakt nicht ändern werde, dass Großbritannien die EU am 29. März verlassen werde.
Lund sieht den Ergebnissen der Abstimmung im Parlament entspannt entgegen. Sollte es tatsächlich wider Erwarten zu einem zweiten Referendum kommen, könne er, sagt er, die Autorschaft für das Ergebnis beanspruchen. Im Anschluss, da ist er sich sicher, würde die Frage nach der Rolle der Kunst jedenfalls nicht mehr gestellt werden, denn, voilà, das Propagandabüro "Operation Earnest Voice" war erfolgreich. Er meint es so ernst wie seinen Videoaufruf.
Wenn Jonas Lund nicht gerade in das politische Tagesgeschäft eingreifen möchte, lässt er Menschen über seine eigene Arbeit als Künstler entscheiden – beispielsweise über seine Teilnahme an Ausstellungen und wie das "JLT Popsocket", eine Smartphone-Halterung, gestaltet werden soll.
Wer die Halterung für das Smartphone erwirbt, bekommt einen Jonas Lund Token, eine Kryptowährung, und ist damit Aktionär und Teil des Kuratoriums, das der Künstler befragt, wenn er einen guten Rat braucht. Aktuell hält er selbst noch die Mehrheit, das soll aber nicht so bleiben, er wird dann selbst so etwas wie ein Mitarbeiter in einem Unternehmen sein. Lund testet in seiner Arbeit die Grenzen des Kunstbetriebs und der künstlerischen Praxis aus. Zuvor hatte er bereits live gestreamt, wie seine Assistenten Gemälde schufen, die auf einem Handbuch von ihm basieren. Bilder der fertigen Arbeiten wurden auf eine Website hochgeladen, ein Kuratorium aus Kunstexperten wählte aus, Lund signierte.
"Operation Earnest Voice" ist Performance und künstlerische Geste. "Es ist wie eine riesige Theaterproduktion", beschreibt Lund sein Vorhaben. Ein Filmteam wird vor Ort sein, im Anschluss soll es eine Mockumentary geben, also einen Dokumentarfilm, der keiner ist, sondern eine Parodie des Genres. Er möchte etwas in Richtung der Netflix-Serie "Black Mirror" produzieren, eine "hyper-weirde Erzählung", nennt er es.
"Die genialen Kunstkollektive aber fangen gerade erst an", schrieb Monopol-Redakteurin Silke Hohmann in ihrem Kommentar über die Aktionen von Pussy Riot, Forensic Architecture und dem Zentrum für Politische Schönheit. Letztere werden gern als selbstgerecht kritisiert, weil sie den Gegner mit den eigenen Waffen schlagen - zuletzt suchten sie mit der Aktion "Soko-Chemnitz" und einem Online-Pranger vermeintlich nach rechtsextremen Straftätern. Hohmann weiter: "Dass die neuen Protagonisten dieser Kunst, die sich an der gesellschaftlichen Realität nicht nur reibt, sondern mitbestimmt, höchst effizient arbeiten, kann Skeptiker beunruhigen. Diese Künstler beherrschen die Technik und die Kommunikation, kennen die Gesetzeslage, argumentieren scharfsinniger als Politiker, sind im Umgang mit Bildern allen voraus und wissen, wie man präzise Interviews gibt." Auch Lund maßt sich an, das lässt er einen zumindest glauben, mit seiner Aktion in die gesellschaftliche Realität eingreifen zu können.
Sein Team steht, das Propagandabüro ist eingerichtet - auf Instagram konnte man ein wenig bei den Vorbereitungen zusehen - der Kuchen für die Party im Büro ist geliefert.
Lund hat gefunden, wonach er suchte. In seinem Team sind unter anderem eine Troll-Expertin, ein Philosoph und eine Spezialistin für psychologische Kriegsführung. "Operation Earnest Voice" ist übrigens eigentlich der Name einer Kampagne der US-Regierung, deren Ziel es ist, proamerikanische Propaganda in den sozialen Medien zu verbreiten, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Das Team von Jonas Lund wird ähnliche Strategien anwenden. Mit dem Unterschied, dass sie maximal transparent ist: Wir können dabei zusehen.
Die Performance "Operation Earnest Voice: Brexit Division" läuft vom 10. bis 13. Januar in der Photographer's Gallery und online. Es gibt einen täglichen Livestram von 10 bis 18 Uhr